Die Hüterin des Schattenbergs
verhindere«, schwor sie und schaute von Galdez zu Orekh. »Ich werde den Menschen zurückgeben, was ihnen geraubt wurde.«
»Leider genügt es nicht mehr, den Dingen ihren Lauf zu lassen«, sagte Orekh betrübt. »Der Plan, den die Götter ersonnen hatten, wäre vielleicht aufgegangen, wenn ihr Corneus nicht vom T od der Hüter berichtet hättet.« Seine Miene verfinsterte sich. »Seit Jahren schon arbeitet Corneus an einem Zauber, der stark genug ist, die Schatten zu töten. Nun ist alles bereit und er ist entschlossen, ihn einzusetzen.«
»Aber warum hat er mich dann überhaupt zur Hohen Feste geschickt?«, wollte Jemina wissen.
»Vermutlich, um das Gesicht vor dem Rat der Magier zu wahren und dem V orwurf vorzubeugen, eigennützig zu handeln.« Orekhs seufzte. »Corneus ist ein begnadeter Magier. A ber er denkt nur an sich. Er will den Rat ausstechen und allein über Selketien herrschen. Nun wähnt er sich am Ziel. Er wartet nur noch darauf, dass die Drachenreiter mit der Nachricht deines T odes – und dem Buch des Lebens – zurückkehren.
Den Moment des Schreckens will er für sich nutzen, indem er die Magier endgültig zwingt, ihm den Einsatz seines Zaubers zu gestatten.« Orekh bedachte Jemina mit einem Blick, der mehr als alle W orte deutlich machte, wie schuldig er sich fühlte. »Du musst wissen, dass die Magier nichts mehr fürchten, als die Befreiung der Schatten«, erklärte er. »Sie wissen, dass ihr herrschaftliches Leben dann schlagartig ein Ende hätte. Zwar hat Corneus im Rat nicht viele Freunde, aber wenn er den Schatten als Einziger noch Einhalt gebieten kann, werden sich ihm alle widerspruchslos unterordnen, um zu bewahren, was ihnen lieb und teuer ist.«
»Dann ist es bereits zu spät?«, fragte Jemina resignierend. »Dann haben Rik und ich alles verdorben und im Glauben, Gutes zu tun, Corneus den W eg bereitet?«
»Glaub mir, ich weiß am besten, wie bitter es ist, genau das Gegenteil von dem zu bewirken, was man vorhatte.« Orekh nickte verständnisvoll. »Aber noch ist es nicht zu spät. Noch gibt es Hoffnung – wenn ihr schnell zur Feste zurückkehrt, werden die Ratmitglieder Corneus nicht gestatten, den Zauber anzuwenden.«
»Schnell zurückkehren? W ie denn?« Jemina schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Rik und ich sind mindestens drei T agesmärsche von der Feste entfernt. Ehe wir sie erreicht haben, hat Corneus den Zauber längst gewoben. Und selbst wenn wir rechtzeitig kommen, um das zu verhindern: W as hätten wir gewonnen? Der Rat wird verlangen, dass ich einen neuen Hüterzirkel einberufe und schon bald feststellen, dass wir keine Macht über die Schatten haben. Dann wird Corneus seine Magie doch noch einsetzen.«
»Nicht so hastig, mein Kind«, entgegnete Orekh. »Alles was du sagst, ist richtig und doch übersiehst du etwas, das dir in der T at weiterhelfen kann.« Er lächelte freundlich und schien auf eine A ntwort zu warten, aber Jemina war zu durcheinander, um den Fehler in ihren Überlegungen zu finden. »Ich verstehe nicht …«
»Zeit!« Orekh sagte das W ort auf eine W eise, als erkläre es alles.
»Zeit?« Jemina runzelte die Stirn. »Wofür?«
»Um den Zauber zu zerstören, der die Magie der Hüter nährt. Den Zauber, der die Schatten im Berg gefangen hält.«
»Aber ich dachte, die Magie der Hüter ist es, die die Schatten …« Jemina war nun völlig verwirrt. »Das verstehe ich nicht.«
Orekh lächelte wissend. »Wie solltest du auch? Das W issen um die Schattenmagie ist das am besten gehütete Geheimnis in ganz Selketien. Nur die ranghöchsten Magier wissen darum. Es ist zwar nicht falsch, zu sagen, dass die Hüter die Schattenmagie am Leben halten, es ist aber auch nicht ganz richtig, denn zwischen den Hütern und dem Schattenberg gibt es noch etwas, das ich immer das Herz des Schattenzaubers genannt habe.« Er verstummte kurz und fuhr dann fort: »Du weißt ja, dass die Hüter selbst zu keiner echten Magie fähig sind. Dennoch ist ihr Leben untrennbar mit dem Zauber verbunden, den ich geschaffen habe. Du musst dir das so vorstellen: W ie ein Blutegel sich vom Blut eines Menschen ernährt, so benötigt auch mein Schattenzauber W irte, von deren Lebenskraft er zehren kann.« Er seufzte und schaute für einen A ugenblick schuldbewusst zu Boden. »Du weißt es nicht, aber Hüter haben eine sehr viel kürzere Lebensspanne als andere Menschen. Sie altern schneller und sterben lange vor ihrer Zeit. Der Schattenzauber nimmt ihre Lebenskraft in sich auf,
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