Die Hüterin des Schattenbergs
Lebens, und …«, sie stockte kurz, »… mein Freitod. Habe ich all das vergeblich getan? W äre es gar besser gewesen, einfach abzuwarten?«
Galdez nickte bedächtig. »Nun, so gesehen wäre es das vielleicht …«
»Nichts war vergeblich. Im Gegenteil!«
Der scharfe Klang einer fremden Stimme ließ Jemina herumfahren. Hinter ihr stand die Erscheinung eines sehr alten Mannes. Sein schlohweißes, schütteres Haar hing offen bis über die Schulterblätter hinab, während ein langer weißer Bart die Brust fast vollständig bedeckte. Sein Rücken war so gebeugt, als würde alle Last der W elt darauf ruhen. Er stützte sich auf einen knorrigen Stab, um beim Gehen das Gleichgewicht zu halten. Mit unsicheren kurzen Schritten kam er auf Jemina zu. »Ich habe auf dich gewartet, mein Kind«, sagte er. »Viele Generationen lang habe ich gewartet. Und nun bist du gekommen.« Die A ugen in dem von Falten gefurchten Gesicht strahlten.
»Wer bist du?« Jemina warf Galdez einen hilflosen Blick zu.
»Erkennst du mich nicht?« Der A lte schmunzelte. »Das solltest du aber, immerhin hast du dein Leben meinen Lehren geweiht.«
»Orekh?« Im wahren Leben wäre Jemina vor Scham und Ehrfurcht errötet, weil sie den ehrwürdigen Meistermagier nicht sofort erkannt hatte, so aber schaute sie nur zu Boden. »Verzeiht, ich wollte nicht …«
»Du musst dich nicht entschuldigen, mein Kind«, sagte der Greis und seine A ugen zwinkerten freundlich. »Ich weiß, dass ich kaum noch Ähnlichkeit mit den Bildern habe, die man überall in Selketien von mir bewundern kann. Ich bin alt, uralt. Selbst hier bin ich der älteste aller Geister, denn ich bin der Einzige, dem die Gnade des V ergessens und der W iedergeburt verweigert wird. Ich bin ein V erdammter, von den Göttern selbst zu ewig währender Strafe verurteilt. T ag für T ag bin ich gezwungen, mir durch dieses magische T or anzusehen, was ich angerichtet habe. T ag für T ag habe ich aus der Ferne T eil am Elend der Selketen und leide mit ihnen, ohne helfen zu können, denn das T or lässt uns nur einen Blick auf die W elt der Lebenden werfen, ohne dass wir einen Einfluss auf den Fortgang der Ereignisse haben. Zugleich sehe ich all das, wonach mein Geist sich in dieser kalten W elt mehr als alles andere sehnt: W ärme, Liebe und Leidenschaft. Das ist wahrlich grausam, denn ich weiß, dass ich niemals wieder die Freuden spüren werde, mit denen ein sterblicher Körper den unsterblichen Geist zu beglücken vermag.« Er seufzte. »Und all das zu Recht.«
»Das verstehe ich nicht.« Jemina blickte den A lten verwirrt an.
»Nicht? Nun, das ist nicht schwer zu verstehen.« Orekhs altersbrüchige Stimme nahm einen bitteren Klang an. »Ich bin zu weit gegangen – damals, als ich, beseelt von dem W unsch, den Krieg zu beenden, den Zauber wob, der die Seelen der Menschen spaltete. Ich habe die Not und das Elend der Menschen gesehen, aber nicht einen Gedanken daran verschwendet, was aus meiner Magie im Laufe der Jahrhunderte erwachsen würde.« Sein Lachen klang wie sprödes Pergament. »Ich war blind, ja das war ich, besessen von dem Gedanken, dem Grauen des Krieges ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Und das habe ich jetzt davon. Nach meinem T od hielten die Götter über mich Gericht, weil ich mir angemaßt hatte, in ihre Schöpfung einzugreifen. Sie versagten mir die Gnade der W iedergeburt und das V ergessen, damit ich jeden T ag aufs Neue an meine Schandtaten erinnert werde.«
»Das … das tut mir leid.« Jemina wusste nicht, was sie sagen sollte. Den in Selketien so gepriesenen und verehrten Meistermagier gebeugt und reumütig vor sich zu sehen, traf sie mitten ins Herz.
»Ich verdiene nichts Besseres.« Orekh schaute sie aus seinen kleinen runzeligen A ugen an. »Aber du kannst mir helfen, meine Fehler wiedergutzumachen.«
»Ich habe mich bereits entschieden, keinen neuen Hüterzirkel ins Leben zu rufen«, erklärte Jemina. »Nach allem, was ich weiß, dürften die Schatten und damit auch die Menschen in Selketien schon bald frei sein.«
»Leider nicht.« Orekh ging auf das leuchtende T or zu und tippte mit dem gekrümmten Finger dagegen, so wie Galdez es schon getan hatte. »Sieh selbst, was in der Feste der Magier in eben diesem A ugenblick vor sich geht.«
Jemina wartete gespannt. Doch gerade, als sich in dem Leuchten ein Bild zeigen wollte, wurde es von einer Gestalt zerstört, die von der anderen Seite mit W ucht durch das T or stürzte und unmittelbar vor Jemina liegen
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