Die Hüterin des Schattenbergs
Dunkelheit. Es führte dorthin, wo die Schwärze undurchdringlich erschien – dorthin, wo Rik auf sie wartete.
Der Gedanke an Rik gab ihr Kraft. Sie spürte einen sanften Zug am Handgelenk, ganz so, als würde er am anderen Ende an dem Band ziehen. Sie musste nur fest an ihn denken und dem Zug des Bandes folgen. Es würde sie durch die allgegenwärtige Schwärze leiten. Fort von dem Licht und der Halle der A hnen – nach Hause, zurück ins Leben.
Für einen A ugenblick fragte sie sich, warum nicht alle Geister auf diese W eise zurückkehrten. Es war so leicht, so unbeschwert, wie bei einem nächtlichen Spaziergang …
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, als ein vielstimmiges, wütendes Kreischen die Stille in der Sphäre zwischen Leben und T od zerriss. Ein Kreischen, so laut und schrill, wie keine menschliche Kehle es hervorzubringen vermochte und so grauenhaft, dass Jemina glaubte, ihre Seele würde in Stücke gerissen. Ihre Instinkte drängten sie zur Flucht, aber was sie auch tat, die Geschwindigkeit, mit, der sie durch die Dunkelheit glitt, änderte sich nicht.
»Es heißt, dass es dort Wächter geben soll …«, hatte Orekh gesagt. Jemina erschauderte. Obwohl sie noch nichts sehen konnte, wusste sie, dass die W ächter ihr Eindringen bemerkt hatten. Nun kamen sie, um sie an den Ort zurückzubringen, von dem es keine Rückkehr geben durfte.
Dann kamen die T orwächter heran. W ie der Blitz schossen sie von allen Seiten auf Jemina zu; dutzende bleiche, skelettartige Kreaturen mit leeren A ugenhöhlen in den kahlen Schädeln. Ihre krallenbewehrten Klauen fuhren in blinder Raserei durch das Nichts. Reißzähne blitzten wie Dolche in den weit aufgerissenen Mäulern, während ihre grauenhaften Schreie die Stille zerfetzten.
In Bruchteilen eines A ugenblicks hatten sie Jemina eingekreist. Einige schlugen ihre Krallen in Jeminas Geistkörper, während andere mit eisigen T odesküssen versuchten, auch den letzten Lebensfunken aus Jeminas Seele zu zerren.
Jemina wand und wehrte sich, doch vergeblich. Unfähig, die Flucht zu ergreifen, trieb sie dahin, während ihr Lebenswille mit jedem T odeskuss schwächer wurde. Die W ächter zerrten an ihr und mühten sich, sie zum T or zurückzuziehen. Das Band war nur noch so dünn wie ein Haar, aber es hielt.
Als die Kreaturen das bemerkten, steigerte sich ihr Kreischen ins Unermessliche. Einige ließen von Jemina ab und stürzten sich wie rasend auf das Band. Sie zerrten und zogen daran und versuchten, es mit den Zähnen zu zerfetzen. A ber sosehr sie sich auch mühten – das Band war stärker. Jemina selbst nahm den Kampf nur noch schemenhaft wahr. Sie war so schwach, dass sie das Kreischen kaum noch hörte und immer wieder kurz das Bewusstsein verlor. Es fiel ihr nicht auf, dass die Schreie leiser wurde und die A ngriffe der W ächter an Kraft verloren. Sie sah nicht den Schein milden Sonnenlichts in der Ferne, der die Finsternis mehr und mehr durchdrang und spürte nicht, dass immer mehr Kreaturen von ihr abfielen und wie geprügelte Hunde in der Dunkelheit verschwanden, als könnten sie den A nblick des lebensspendenden Lichts nicht ertragen. Dann war endlich auch der letzte W ächter fort und die Stille kehrte zurück.
8
E in Beben lief durch Jeminas Körper und weckte Rik aus dem leichten Schlummer, den die Erschöpfung ihm aufgezwungen hatte. A ugenblicklich war er hellwach.
»Jemina?« Seine Linke hielt ihre Hand fest umschlungen, während er mit der Rechten ihre bleiche W ange streichelte. »Komm zurück, Jemina. Bitte!« Er beugte sich vor und küsste sie zärtlich auf Stirn und W angen.
Die Sonne neigte sich zum Horizont und strebte der Nachtruhe zu. Eine kleine Ewigkeit, so schien es ihm, hatte er im Schutz der T anne ausgeharrt und über dem leblosen Körper des Mädchens gewacht, das ihm mehr bedeutete als alles andere auf der W elt. Die Erkenntnis hatte ihn völlig überraschend getroffen. Bis zuletzt hatte er nicht geahnt, wie es um seine Gefühle für Jemina stand, aber die W ache war lang und einsam gewesen und er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt.
Im Stillen verfluchte er sich dafür, dass er sie hatte gehen lassen. Obwohl er fürchtete, sie zu verlieren, hatte er nicht versucht, sie vor ihrem gefährlichen V orhaben abzubringen. Sie war so sehr von ihrem Plan überzeugt gewesen, dass sich ihr V ertrauen in die Nerbuks und Orekhs Niederschrift auf ihn übertragen hatte. A ls sie das Gift dann mutig in einem Zug
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