Die Hüterin des Schattenbergs
angstvoll geweiteten A ugen schaute er Jemina an, die sich über ihn beugte und die W unde mit einem Kräutersud vorsichtig zu reinigen versuchte. Bei jeder Berührung zuckte er zusammen und winselte kläglich.
»Der arme Kerl hatte furchtbare Schmerzen und litt T odesangst«, fuhr ihr Spiegelbild fort. »Und du hattest nichts Besseres zu tun, als ihn mit deinen sinnlosen Hilfsversuchen noch mehr zu quälen und noch Stunden leiden zu lassen, statt ihm die Gnade eines schnellen Endes zu gewähren.«
»Ich wollte ihm das Leben retten«, verteidigte sich Jemina.
»Du wusstest, dass er sterben würde.« Die Stimme der Frau im Spiegel nahm einen scharfen T onfall an. »Du hast ihm nicht geholfen, sondern ihn unnötig leiden lassen.«
»Was hätte ich denn tun sollen?« Jemina spürte, dass alles, was ihr Spiegelbild gesagt hatte, der W ahrheit entsprach. A ber es stimmte auch, dass sie dem Hund hatte helfen wollen.
»Du hättest ihn von seinen Schmerzen erlösen müssen.«
»Ich hätte ihn töten sollen?« Jemina schnappte nach Luft. »Niemals. Das ist gegen Orekhs Lehre. W ir töten nicht.«
» Wir töten nicht, wir töten nicht …«, echote ihr Spiegelbild. »Natürlich nicht, Ihr seid ja auch die Guten. Die Reinen. Die Unfehlbaren … Ihr tötet nicht, aber ihr nehmt billigend in Kauf, dass Kreaturen wie dieser arme Hund unter eurem Gutsein leiden. Stunden, T age vielleicht sogar W ochen, bis der T od sie endlich erlöst. Ihr seid ja sooo gut.«
Das Bild des Hundes verschwand und der Spiegel zeigte wieder Jeminas Spiegelbild. »Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass auch das Gute Schaden anrichten kann? Barmherzig wäre es gewesen, den Hund zu töten, statt ihn unnötig lange leiden zu lassen.«
»Aber das kann ich nicht!«
»Natürlich nicht. Und weißt du auch warum? W eil ich nicht bei dir bin. W äre ich bei dir gewesen, hättest du den Hund schnell und schmerzlos von seinem Leiden erlöst. Es war der einzige W eg, ihm zu helfen, aber du hast ihn nicht einmal gesehen.«
»Das … das ist …« Jemina fehlten die W orte. Die Frau im Spiegel mochte so aussehen wie sie, aber sie fühlte sich ihr so fremd, wie noch keinem anderen Menschen zuvor. »Du siehst aus wie ich, aber du bist nicht ich«, sagte sie mit allem Nachdruck, den sie angesichts der seltsamen Begegnung aufbringen konnte. »Ich kenne dich nicht.«
Sie wollte nach dem T uch greifen und den Spiegel wieder verhüllen, aber ihr Spiegelbild schien zu ahnen, was sie vorhatte und rief: »Warte!«
»Warum?«
»Weil ich dir noch etwas zeigen will.« Die Frau im Spiegel lächelte geheimnisvoll. »Etwas, das dir beweisen wird, warum wir eins sein müssen.« Ihr Bild verblasste und der Spiegel zeigte ein von der Sommerhitze ausgedörrtes Land. Einen Esel am Seil führend, trottete ein Mädchen einen staubigen W eg entlang, der sich für gewöhnlich durch saftige W iesen und A ckerland wand. Nun waren die W iesen braun und das Getreide verdorrt. Jemina war noch sehr jung, aber sie erkannte sich sofort wieder.
Am W egrand lag ein Rehkitz, erschöpft, und zu schwach, um die Flucht zu ergreifen, als Jemina sich näherte. Sie kniete neben dem Kitz nieder, streichelte es und setzte sich so, dass sie ihm Schatten spendete. Dann löste sie ihre W asserflasche vom Gürtel und gab dem Kitz zu trinken, das die Hälfte des W assers verschüttete, während es gierig trank. A m Ende war die W asserflasche leer. Jemina hob das Kitz auf und trug es in den Schatten eines verdorrten Baums, dann setzt sie ihren W eg fort.
»Erinnerst du dich?«, fragt ihr Spiegelbild.
»Ja!« Jemina nickte. »Aber ich sehe nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe. Es ist meine Pflicht, dem hilflosen T ier zu helfen. Heute würde ich es nicht anders machen als damals.«
»Oh Schatten, wie kann man nur so verstockt sein?« Das Gesicht der Frau verfinsterte sich. Du erinnerst dich, dem Kitz geholfen zu haben, aber du erinnerst dich nicht genug.«
Wieder verschwamm ihr A nblick und Jemina sah sich abermals als junges Mädchen mit dem Esel auf der Straße. Doch diesmal führte sie das T ier nicht am Zügel. Mit hängendem Kopf stand der Esel an Straßenrand, während Jemina ausgestreckt am Boden lag und sich nicht rührte.
»Erinnerst du dich nun, wohin dich deine selbstlose Hilfsbereitschaft damals gebracht hat?«, höhnte ihr Spiegelbild. »Du wärst fast selbst verdurstet, weil du dein letztes W asser an das Rehkitz gegeben hast. W enn Efta dich nicht gesucht und rechtzeitig
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