Die Hüterin des Schattenbergs
ansehen können, den Efta wie einen Schatz hütete, oder auf dem stillen W asser eines T eiches, ganz in der Nähe ihrer Hütte. W as sie hier erblickte, war damit jedoch nicht zu vergleichen.
Der Spiegel war so klar, dass sie mühelos die lange dünne Narbe über ihrer linken A ugenbraue erkennen konnte, die sie bisher immer nur ertastet hatte. Sie stammte von einer Schnittwunde, die sie sich im vergangenen Sommer beim Beerenpflücken an einem A st zugezogen hatte. Jetzt erinnerte nur noch ein heller Strich an die erlittenen Schmerzen.
Auch ihre hellblauen A ugen, die fein geschwungenen Lippen und die kurze Nase hatte sie noch nie so deutlich gesehen. W as sie sah, gefiel ihr. So sehr, dass sie kaum glauben konnte, sich selbst im Spiegel zu sehen.
Die Puera war wunderschön. Der fließende Stoff brachte ihre schlanke Figur wunderbar zur Geltung und der silberne Gürtel war hervorragend auf den glänzenden Reif abgestimmt, der ihre aufgesteckten Haare zusammenhielt. Die Blumen in ihrem Haar waren noch nicht welk und der Schmuck, den man ihr zu ihrem Ehrentag angelegt hatte, schimmerte edel im Feuerschein.
»Was starrst du mich so an?«
Jemina schnappte nach Luft. Hektisch schaute sie sich um, konnte aber niemanden entdecken. Misstrauisch warf sie einen Blick in den Spiegel, aber ihr Ebenbild stand immer noch so da wie zuvor.
Es hat sich nicht bewegt!
Die Erkenntnis jagte Jemina einen eisigen Schrecken durch die Glieder. Das ist unmöglich, dachte sie. Das ist doch mein Spiegelbild. Sie runzelte die Stirn und hob vorsichtig einen A rm. Das Spiegelbild bewegte sich nicht. Sie versuchte es noch einmal, diesmal mit beiden A rmen. W ieder ohne Erfolg.
»Wenn du denkst, dass ich diese albernen Figuren nachmache, hast du dich getäuscht!«, sagte das Spiegelbild kühl.
Jemina blinzelte verwirrt. Spiegelbilder sprachen nicht. Niemals.
»Wer hat dir denn das erzählt?«, sagte ihr Spiegelbild. »Du hörst doch, dass ich sprechen kann.«
»Kannst … kannst du meine Gedanken lesen?« Jemina ärgerte sich, weil ihre Stimme so dünn und brüchig klang.
Ihr Spiegelbild lachte eine Spur zu hell und zu schrill, um freundlich zu klingen. »Natürlich kann ich das. W as denkst du denn? Ich bin dein Spiegelbild. Schon vergessen? Ich bin du!«
»Nein, das bist du nicht.« Jemina schüttelte den Kopf. »Mein Spiegelbild würde genau das tun, was ich auch mache.«
»Ach wirklich?« Ihr Ebenbild schnitt eine Grimasse und verschränkte die A rme vor der Brust. »Und wenn ich das nicht will?«
»Dann bist du nicht mein Spiegelbild.«
»Du kennst dich nur nicht richtig.«
»Ich denke, dass ich mich sehr gut kenne.«
»Eben! Du denkst es.« Die Gestalt im Spiegel grinste spöttisch. »Ich hätte übrigens Corneus gerettet«, sagte sie scheinbar zusammenhangslos.
»Warum?«
»Weil er Macht besitzt, du Dummchen. Und weil er reich ist.« Das Spiegelbild lachte. »Er hätte mir die Hilfe gewiss durch eine stattliche Belohnung gedankt.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Ein Jammer, dass es dir nicht gelingt, aus deinen Fähigkeiten Gewinn zu schlagen.«
»Du hättest dich für deine Hilfe bezahlen lassen?« Jemina war entsetzt. »Das … das ist …« Verzweifelt suchte sie nach W orten, die ihre Gefühle hätten ausdrücken können. »Das … das ist gegen Orekhs Geheiß«, sagte sie schließlich, weil ihr nichts Besseres einfiel.
»Orekh ist lange tot.« Das Spiegelbild machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was er gesagt hat, kümmert mich nicht. Ich handele, wie es mir richtig erscheint.«
»Das mache ich auch.«
»Ich weiß.« Die Frau im Spiegel lachte höhnisch und schüttelte den Kopf. »Und dabei erreichst du oft das Gegenteil von dem, was du möchtest.«
»Wie meinst du das?«
»Du verstehst mich nicht? Nun, dann sieh selbst.« Die Frau in der festlichen Puera verblasste und wich dem A nblick der Hütte, in der Jemina mit Efta wohnte. Ein Mädchen kam aus dem W ald gelaufen. Sie trug einen Hund auf dem A rm. Er blutete stark und winselte kläglich.
»Erinnerst du dich?«, fragte die Stimme körperlos aus dem Spiegel.
»Ja.« Jemina erinnerte sich gut. »Das Mädchen kam zu mir, weil ihr Hund von einem W olf angefallen wurde.« Sie senkte die Stimme und fuhr fort: »Ich habe versucht, dem Hund zu helfen.«
»Ihm helfen? Oh ja, das wolltest du wirklich.« Ihr Spiegelbild gab ein verächtliches Lachen von sich. »Aber um welchen Preis?«
Nun war der Hund in dem Spiegel zu sehen. Mit glasigen,
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