Die Hüterin des Schattenbergs
W ie tröstlich wäre es zu wissen, dass Hilfe und Hoffnung allzeit nahe waren, und wie wunderbar war der Gedanke, T rauernden echten T rost spenden und etwas Licht in ihre Herzen tragen zu können. Die W ahl war schwer. Für einen A ugenblick wünschte Jemina, es möge ein A mulett geben, das alle Eigenschaften in sich vereinte. T ief in ihrem Herzen aber wusste sie, dass es nur eine A ntwort geben konnte.
»Ich wähle keines!«
»Keines?« Galdez wirkte erstaunt. »Warum?«
»Weil die Macht, die ich durch ein solches A mulett erhalten würde, nicht mit Orekhs Lehre vereinbar wäre.« Jemina war sich ihrer Sache sicher. »Jedes Einzelne von ihnen würde mich über die anderen Menschen erheben und damit dem heiligen Grundsatz widersprechen, dass alle Bewohner Selketiens gleich sind.« Sie schaute den Großmeister von der Seite her an und fragte: »Welches hast du damals gewählt?«
»Kennst du die A ntwort nicht bereits?«
Jemina nickte. »Auch du hast kein A mulett gewählt, ebensowenig wie die anderen Hüter«, gab Jemina mit fester Stimme zurück. »Das A ngebot ist eine Prüfung, nicht wahr?«
Statt eine A ntwort zu geben, löste sich Galdez’ Gestalt auf und wich dem A nblick eines Nerbuks, dessen violett-weiße Gestalt nun nahe dem Feuer aufragte. Die Amulette wurden von Orekh auf diese Insel gebracht, weil sie einst viel Leid über die Menschen brachten, hörte sie die geisterhafte Stimme des Nerbuks in ihren Gedanken. Tausende folgten falschen Propheten unter dem Einfluss von Azur und Rha in Krieg und Tod, Hunderte wurden aus Liebe zu Mördern und mehr als eine Handvoll trieb die Gnade ewigen Lebens in den Wahnsinn.
Die Amulette sind schön, aber gefährlich.
Noch während der Nerbuk das sagte, schwoll seine Gestalt an und verlor ihre Konturen. Immer weiter und weiter dehnte er sich aus, bis die ganze Höhle von einem grellen violett-weißen Licht erfüllt war.
Jemina keuchte auf und schloss geblendet die A ugen, aber selbst durch die geschlossenen Lider konnte sie die gleißende Helligkeit erahnen. Furcht stieg in ihr auf, aber ehe diese übermächtig werden konnte, war das Licht fort. Sie spürte eine vertraute, feuchte W ärme auf der Haut und öffnete blinzelnd die A ugen.
Im ersten Moment konnte sie nichts erkennen. Doch als sie nach oben schaute, sah sie die fast vollendete Scheibe des Mondes, der sein silbernes Licht durch die dünnen Nebelschleier zu ihr schickte – und verstand. Die Höhle war fort. Sie befand sich wieder auf der Lichtung, auf der die Hüter sie zurückgelassen hatten. V on den Nerbuks war weit und breit nichts zu sehen.
War die Prüfung schon vorbei? Fast konnte Jemina nicht glauben, dass die drei A ufgaben, die man ihr in der Höhle gestellt hatte, alles gewesen sein sollten. So geheimnisvoll wie die Hüter getan hatten, war sie auf weitaus schlimmere Hürden gefasst gewesen.
V ielleicht war dies nur eine kurze Unterbrechung, ehe weitere A ufgaben folgen.Jemina seufzte. Da sie nichts, aber auch gar nichts über den A blauf wusste, war alles möglich.
Und wenn ich nicht bestanden habe? Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Wenn sie nicht rein genug war, um eine Hüterin zu werden und die Nerbuks die Prüfung deshalb vorzeitig beendet hatten? Sie ertappte sich dabei, wie sie die Lichtung nach Nerbuks absuchte, die kamen, um sie für immer an die Insel zu binden. Doch sie sah nichts als wogende Nebel und Schatten, die ihre Geheimnisse nicht preisgaben.
»Ich habe keine A ngst.« Jemina sprach so leise, dass nur sie die W orte hören konnte. Dabei ballte sie die Hände so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten und die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen schnitten. »Ich fürchte mich nicht.«
Sie lauschte, aber nichts geschah.
»Also gut, dann warte ich eben«, sagte sie eine Spur lauter, in der Hoffnung, die Nerbuks würden es hören. Bei der ersten Begegnung mit den Geistern der Insel hatte sie geschlafen, vielleicht sollte sie das auch jetzt versuchen.
Der Gedanke entlockte ihr ein Gähnen. Nach allem, was sie erlebt hatte, fühlte sie sich nicht müde, andererseits hatte der Gedanke, sich hinzulegen und die A ugen zu schließen etwas V erlockendes. So breitete sie ihren Umhang ein zweites Mal auf dem taufeuchten Gras aus, legte sich darauf und gab sich der Erschöpfung hin, die so unvermittelt über sie hereinbrach, als hätten die Nerbuks einen Zauber gewoben. Ermattet schloss sie die A ugen und ließ sich auf sanften Schwingen in das
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