Die Hüterin des Schattenbergs
daneben.
Jemina bückte sich und besah die Spuren genauer. Zweifellos stammten sie noch vom V orabend, als die Hüter den Heimweg angetreten hatten, denn alle wiesen in Richtung des W assers. Frische Spuren, die in die andere Richtung führten, fand sie nicht.
»Dann sind sie noch nicht hier gewesen.« Jemina atmete auf. Insgeheim hatte sie befürchtet, dass die Hüter auf dem W eg zur Lichtung einen anderen W eg eingeschlagen hatten und an ihr vorbeigelaufen waren. Nun konnte sie sicher sein, dass sie die Erste war, die die Bucht erreichte. Sie musste nichts weiter tun als warten. Ein verwitterter, mit Moos bewachsener Baumstamm erschien ihr dazu gerade recht. V on dort aus hatte sie eine gute A ussicht auf die Schneise im Schilfgürtel und würde die A nkunft der Barke sofort bemerken. So setzte sie sich und versuchte, sich in Geduld zu üben.
Die Zeit verstrich unter dem verhaltenen Rauschen, mit dem die winzigen W ellen des Sees das Ufer berührten. Immer wieder hielt Jemina den A tem an und lauschte. A ber mehr als das leise Rauschen war nicht zu hören. »Was für ein seltsamer Ort.« Obwohl Jemina flüsterte, erschrak sie beim Klang ihrer eigenen Stimme. Beschämt schaute sie sich um und nahm sich vor, fortan nicht mehr laut zu denken.
Die Zeit tröpfelte dahin.
Jemina vermochte nicht zu sagen, wie lange sie schon wartete. Ohne den Stand der Sonne sehen zu können, war es ihr unmöglich abzuschätzen, wie weit der T ag vorangeschritten war. Eine W eile versuchte sie, sich ein Zeitgefühl zu verschaffen, indem sie in Gedanken die W ellen zählte, aber das wurde ihr bald zu eintönig.
Schweigend starrte sie in den Nebel, der sich in der Lücke des Schilfgürtels sammelte, als gäbe es dort ein T or, das nur beherzt durchschritten werden musste, um in den Sonnenschein zu gelangen.
Sonnenschein. Jemina seufzte. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie sich einmal so sehr nach Licht und W ärme sehnen würde. Nach Dingen, die sie ihr ganzes Leben lang wie selbstverständlich begleiteten. Mehr denn je wurde ihr bewusst, wie sehr sie die Sonne und das, was sie verkörperte, liebte. V oller Ungeduld erhob sie sich und schritt am Ufersaum auf und ab, als könnte sie die A nkunft der Barke damit beschleunigen.
Irgendwann hatte sie alle Spuren ausgelöscht. Kein Fußabdruck war mehr im Sand zu sehen, der nicht von ihr stammte. Die Furche des Kiels war verschwunden.
Als wären sie nie hier gewesen …
Der Gedanke jagte Jemina einen Schauder über den Rücken. Das Gefühl, etwas Kostbares zerstört zu haben, schlich sich in ihr Bewusstsein. Es waren doch nur Spuren im Sand, versuchte sie sich zu beruhigen. A ber das Gefühl des Frevels wollte nicht weichen. Die Spuren waren die einzigen Zeugnisse davon gewesen, dass sie nicht allein war – Erinnerungen an Menschen, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. Jetzt waren sie fort.
»Wir sehen uns bei Sonnenaufgang«, hatte Efta zum A bschied gesagt. Doch der Sonnenaufgang war längst vorbei und nach der gefühlten Ewigkeit, die sie schon hier am Ufer ausharrte, vermutlich auch der Morgen, aber von den Hütern fehlte jede Spur. Keine menschliche Stimme durchdrang den Nebel, kein leises Platschen im W asser verriet, dass irgendwo dort draußen ein Ruder ins W asser getaucht wurde.
Und wenn es auf dieser Insel noch eine andere Bucht gibt? Jemina durchlief es siedendheiß. W arum hatte sie nicht früher daran gedacht? W arum war sie nicht auf der Lichtung geblieben? Sie ballte die Hände zu Fäusten und machte ein paar Schritte auf den W aldrand zu, hielt aber sogleich wieder inne. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch zur Lichtung zurückzulaufen. W enn die Hüter sie dort bei Sonnenaufgang nicht angetroffen hatten, würden sie die Lichtung längst wieder verlassen haben, um nach ihr zu suchen. Es konnte nicht lange dauern, bis sie zu dieser Bucht kamen, denn wo sonst sollte Jemina auf sie warten?
Und wenn sie denken, dass ich die Prüfung nicht bestanden habe? Jemina hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihre Knie wurden weich. »Oh nein«, murmelte sie. »Ihr Götter, das … das darf nicht sein.«
Haltsuchend tastete sie nach dem Baumstamm, sank zu Boden, zog die Knie wie ein verängstigtes Kind an den Körper und begann zu schluchzen. W ährend sie sich in Gedanken ausmalte, wie die Hüter ohne sie ans Festland zurückkehrten und den anderen erklärten, dass sie es nicht geschafft hatte, versuchte sie, die wispernde Stimme in ihrem
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