Die Hüterin des Schattenbergs
um sich so weit zurückzunehmen, dass er in einer Gruppe Menschen nicht auffiel. Eine Zeitlang hatte er große A ngst gehabt, tatsächlich ein Unreiner zu sein, aber Galdez hatte nur gelacht und ihn mit den W orten: »Hätte ich dich sonst zum Eleven erwählt?«, beruhigt. Galdez’ Glauben an das Ritual der Reinheit schien unerschütterlich zu sein. A ls Rik vor dem Aufbruch zum Nebelsee angemerkt hatte, dass man seine dunkle Seite dabei vielleicht übersehen habe, hatte Galdez ihm zugezwinkert und gesagt: »Sei unbesorgt. Du trägst die weiße Sichel als Zeichen der Reinheit auf deinem A rm, so wie alle in Selketien, deren dunkle Seite verbannt werden konnte. Deine Seele ist nicht schwarz, mein Sohn. Höchstens ein wenig grau.«
So hatte Rik gelernt, seine Gefühle vor den anderen zu verbergen, seine Gedanken für sich zu behalten und das heiße Gefühl der Ungerechtigkeit herunterzuschlucken, das ihn jedes Mal aufs Neue überkam, wenn er das Dorf mit seinen freundlichen und hilfsbereiten Bewohnern betrat. Er hatte geschwiegen und sich selbst verleugnet, indem er so tat, als wäre er wie sie. A ber er war es nicht. Und er würde es niemals sein.
»Was die Menschen hier den Magiern geben, ist nicht zu viel«, ergriff Jemina wieder das W ort. »Es ist angemessen und sie geben es ihnen gerne.«
Die einzige Ziege? Das letzte Stück Brennholz im W inter? Die geliebte T ochter? Rik biss sich auf die Unterlippe. Er hätte die Liste beliebig weiterführen können, aber er wusste, es hatte keinen Sinn. »Du hast recht. Es ist undankbar zu klagen. Ohne Orekh und seine Magier wären wir alle wahrscheinlich tot«, sagte er, während er sich gleichzeitig dafür hasste, dass er seine innerste Überzeugung schon wieder verleugnete.
2
J enseits des Dorfes erstreckte sich eine Ebene, auf der sich Felder und W iesen wie ein bunter Flickenteppich aneinanderreihten. Dichte Hecken aus Hasel, W eide und anderen Gehölzen trennten die einzelnen Felder voneinander und bildeten für das V ieh auf den W eiden einen natürlichen Zaun.
In der Nähe des Dorfes wurden verschiedene Gemüsesorten angebaut und Obstbäume gezüchtet. Je weiter sich die Eleven von den Hütten entfernten, desto mehr wurden die Gemüsegärten von W eiden abgelöst, auf denen Rinder und Pferde grasten. Später prägte junges Getreide das Bild; kleine W äldchen erhoben sich wie Inseln aus den grünen Halmen, die sich in wogenden W ellenbewegungen vor dem W ind verneigten. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel und der trällernde Gesang der Feldlärchen begleitete die Gruppe auf ihrem W eg zur Feste der Magier.
Jemina konnte sich dem Zauber nicht entziehen, der von diesem Frühlingsmorgen ausging. Frieden und Harmonie schienen die W elt um sie herum wie eine unsichtbare A ura zu umhüllen. Eine A ura, die so stark war, dass Jemina darüber sogar für einige kurze Momente die T rauer über Eftas T od vergaß. Umso schmerzlicher fühlte sie, wie zerbrechlich die Eintracht war, die Mensch und Natur in Selketien miteinander verband. Die Magier mussten Rat wissen – Jemina wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn die Schatten sich aus dem Berg befreien würden.
Um sich abzulenken, begann sie leise ein Lied zu summen. Es war ein fröhliches Lied über den Frühling und das Erwachen der Natur, das die Bauern sangen, wenn die Saat ausgebracht war und die Mühsal des Pflügens ein Ende hatte.
»Es gibt Zeiten zu singen und Zeiten zu trauern.« Jordi, der neben ihr ging, schaute sie kopfschüttelnd an. »Bist du denn gar nicht traurig?«
»Doch.« Jemina errötete. »Doch, das bin ich. V erzeih. Du hast recht, das Lied ist unpassend, aber es lenkt mich ab und ich fühle mich Efta nah. Sie hat dieses Lied oft bei der A rbeit gesummt. Ich mochte das sehr.«
»Mascha hat nie gesungen«, sagte Jordi. »Aber meine Mutter.« Seine Miene hellte sich auf. »Meine Mutter hat mir immer etwas vorgesungen, wenn ich nicht einschlafen konnte.«
»Sie ist sicher sehr stolz, dass du von Mascha als Elev erwählt wurdest«, sagte Jemina.
»Natürlich.« Jordi gelang ein Lächeln. »Alle haben sie darum beneidet, dass ich erwählt wurde. Noch nie ist jemand aus meinem Heimatdorf ein Hüter geworden.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich hoffe sehr, dass Corneus weiß, was zu tun ist.«
»Das weiß er.« Jemina gab sich zuversichtlicher, als sie sich fühlte. »Ganz sicher.«
Sie kamen an einem See vorbei, an dessen Ufer Fischer ihre Netze
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