Die Hüterin des Schattenbergs
war in der T at besorgniserregend. Pretonias A ufgabe war es, den magischen Schild, der die Schatten im Berg gefangen hielt, in regelmäßigen A bständen zu überprüfen. Der alte Magier lebte schon seit vielen Jahren in selbstgewählter Einsamkeit in einer Hütte nahe dem Berg und war mit den Schwankungen und Unregelmäßigkeiten, die der Schild aufwies, wohlvertraut. W enn einer der Hüter, die den Schild aufrecht erhielten, starb, konnte man ein deutliches Nachlassen der Schutzmagie feststellen. So lange, bis sein Nachfolger stark genug war, die entstandene Lücke zu schließen. A uch wenn eine Krankheit einen Hüter seiner Kräfte beraubte, konnte man dies an der schwächeren magischen A ura des Schildes erkennen. A ll dies war in den vergangenen acht Hütergenerationen schon oft vorgekommen und hatte nie A nlass zur Sorge gegeben. Denn Orekh, das musste Corneus zugeben, war ein kluger Magier gewesen und hatte die Magie so gewoben, dass sie selbst dann nicht erlosch, wenn das Schicksal gleich drei Hüter auf einmal in den T od trieb.
Nun aber schien etwas eingetreten zu sein, dessen Ursprung sich Pretonias nicht erklären konnte. Das Pergament enthielt eine ausführliche Beschreibung der V eränderungen, die er seit einigen T agen am Schattenberg beobachtete und eine A ufstellung der möglichen Gründe. Corneus konnte aus den Zeilen herauslesen, wie sehr Pretonias bemüht war, die Ursache der V eränderung zu ergründen, am Ende aber blieb nur eines: Ratlosigkeit.
»… aber eines ist sicher, die Macht schwindet unaufhörlich. Wenn der unheilvolle Prozess nicht aufgehalten wird, steht zu befürchten, dass die Schatten sich aus dem Berg befreien. Ich muss Dir nicht sagen, was das für uns bedeutet«, schrieb Pretonias abschließend und fügte hinzu: »Sei versichert, lieber Freund, dass ich alles in meiner Macht stehende versucht habe, den Zerfall aufzuhalten. Es ist mir nicht gelungen. So harre ich nun deiner Antwort, in der Hoffnung, dass Du einen Rat weißt.«
Einen Rat . Corneus schüttelte den Kopf. W arum fragt er mich?, dachte er bei sich. Es sind die Hüter, die wir fragen müssen.
»Meister Corneus?«
Die vorsichtige Frage des Boten erinnerte Corneus daran, dass er nicht allein war. »Du kannst gehen«, sagte er knapp und unterstrich die W orte, indem er mit seiner ringgeschmückten Hand zur T ür deutete. »Ich werde einen Boten zu Galdez schicken und ihn in die Feste rufen lassen. Sollte der Bann wirklich durch einen Makel getrübt sein, wird er es wissen. Sobald ich von Galdez eine Erklärung für die V orgänge erhalten habe, kannst du zu deinem Herrn zurückkehren.«
Im Licht der Morgensonne führte Rik die zehn Eleven durch das Dorf, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden war. W ie in Selketien üblich, besaß es keinen Namen und unterschied sich kaum von dem namenlosen Ort, in dem er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte, denn alle Dörfer in Selketien glichen sich in ihrer A rmut. Die mit Stroh gedeckten Hütten wirkten baufällig, die W ege dazwischen waren nicht gepflastert, es gab nur wenig V ieh und die Menschen waren ärmlich gekleidet. Der A nblick war für Rik nur schwer zu ertragen. A ls er die Eleven durch das Dorf führte, waren die Bewohner gerade dabei, ihr T agewerk zu beginnen. Die Feldarbeiter waren mit Hacken und Sicheln auf dem W eg zu den Feldern, der Schmied schürte das Schmiedefeuer, eine alte W eberin saß vor ihrem W ebstuhl in der Sonne und der T öpfer bereitete den T on für den T ag vor. Eine Gruppe junger Frauen war mit Krügen auf dem W eg zum Brunnen, um frisches W asser zu holen, und zwei Kinder jagten einem Hund hinterher, der eine zerlumpte Puppe im Maul trug. Rik kannte jeden Einzelnen beim Namen und grüßte so freundlich wie immer, wenn er das Dorf mit Galdez besucht hatte. Er ließ sich nichts anmerken; dass Galdez und den anderen Hütern etwas zugestoßen war, sollte niemand erfahren.
»Hallo Rik, wen bringst du uns denn da?« Ein bärtiger alter Mann, dem die Feldarbeit den Rücken gebeugt hatte, saß vor seinem Haus auf einer kleinen Bank und maß die Gruppe der Eleven mit einem verwunderten Blick. »Wo ist Galdez?«, fragte er. »Ihr zwei seid doch sonst immer unzertrennlich.«
»Er ist noch am Nebelsee. Zusammen mit den anderen Hütern«, erwiderte Rik wahrheitsgemäß. »Ich führe die Eleven zur Feste der Magier. Corneus möchte sie kennenlernen.«
»Ah, so … so.« Der A lte nickte langsam und schenkte Rik ein zahnloses Lächeln.
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