Die Hüterin des Schattenbergs
noch einmal zurückzugehen.«
»Sei nicht ungerecht. Sie haben bestimmt einen guten Grund für ihr V erhalten.« Jemina konnte sich nicht vorstellen, dass jemand einem Menschen in Not Hilfe verweigern würde. A lles was sie spürte, waren V erwunderung und ein leises Bedauern.
»Ungerecht? Ich?«, brauste Rik auf. »Na hör mal: Diese … diese …« Er schnappte nach Luft, machte eine kurze Pause und fuhr etwas gemäßigter fort: »Jemina, die Drachenreiter haben den Befehl, uns wohlbehalten zur Hohen Feste zu bringen. Da können sie doch nicht zulassen, dass du hier vor Erschöpfung stirbst.«
»Sie haben sicher nur …« Das Heulen eines W olfes in unmittelbarer Nähe ließ Jemina mitten im Satz verstummen.
»Gib mir deine Hand. W ir müssen hier weg.« Rik schaute sich angespannt um. Er umfasste Jeminas Hand, half ihr wieder auf die Beine zu kommen und stützte sie so gut es ging, während sie gemeinsam den W eg fortsetzen.
Jemina war nun doppelt froh, Rik an ihrer Seite zu haben. W ölfe und Bären waren die gefährlichsten Raubtiere in den W äldern Selketiens. Seit Orekh die Schatten in den Berg verbannt hatte, wurden sie nicht mehr gejagt oder bekämpft, denn niemand brachte es über das Herz, einem T ier das Leben zu nehmen. Die klugen T iere hingegen hatten schnell herausgefunden, dass die Menschen keine Gefahr mehr für sie waren. Immer wieder kam es vor, dass Kinder oder alte Menschen ihnen zum Opfer fielen.
Jemina selbst war als Kind im W inter einmal von fünf W ölfen angegriffen worden, während sie im W ald Brennholz sammelte. Damals war es allein Eftas A ufmerksamkeit zu verdanken gewesen, dass die W ölfe sie nicht getötet hatten. Die Hüterin hatte das Heulen gehört und war sofort herbeigeeilt, um die A ngreifer fackelschwenkend und mit lauten Schreien zu vertreiben.
Jetzt hatte Jemina weder Stock noch Fackel zur Hand. Es war aber ein beruhigendes Gefühl, nicht allein zu sein und die Furcht vor den W ölfen machte es ihr leichter, auch das Letzte aus ihrem Körper herauszuholen.
Das Heulen des W olfes blieb hinter ihnen zurück. Es erklang noch zweimal, aber immer ein Stück weiter entfernt, ein Zeichen dafür, dass das T ier eine andere Richtung eingeschlagen hatte.
Jemina atmete auf. A ls sie den W aldrand erreichten, machten sie sich sofort daran, den kahlen Hang aus Felsgestein zu erklimmen, an dessen Ende die Felswand senkrecht in schwindelerregende Höhe aufragte. Ein Lagerfeuer am Fuße der Felswand, das nur die Drachenreiter entzündet haben konnten, wies ihnen den W eg. Kleine Steinlawinen lösten sich unter den Sohlen ihrer Stiefel und rutschten klackernd talwärts, während sie sich durch das lockere Geröll den Hang hinauf kämpften. A ls sie das Lagerfeuer endlich erreichten, war auch Rik am Ende seiner Kräfte.
»Gewonnen!« Ohne ein W ort der Begrüßung an Jemina oder Rik wandte sich Salvias seinem Kameraden zu und streckte die Hand aus. »Du schuldest mir zwei Kupfermünzen.«
Der andere knurrte etwas Unverständliches, löste seinen Geldbeutel vom Gürtel, holte die geforderten Münzen daraus hervor und warf sie Salvias zu mit den W orten: »Du musst auch immer recht behalten.«
Rik starrte die Drachenreiter erbost an. »Ihr habt darauf gewettet, ob wir das Lager erreichen? Das … das ist ungeheuerlich.«
»Nicht ob.« Salvias grinste. »Wann.« Er gähnte gelangweilt. »Du kannst es Corneus gern erzählen, wenn wir zurück sind. Er wettet selbst ganz gern.«
»Er hat befohlen, dass ihr uns beschützen sollt.« Riks Stimme bebte vor W ut. »Habt ihr den W olf nicht gehört? W ir waren allein im W ald. W ir hätten tot sein können.«
»Beruhige dich, Junge«, sagte Salvias von oben herab. »Es gab keinen Grund einzugreifen.«
Rik schnappte nach Luft. »Jemina ist zu T ode erschöpft. Ihr hättet ihr helfen müssen, damit sie …«
»Lass es gut sein.« Jemina legte Rik beschwichtigend die Hand auf den A rm. »Wenn der W olf uns angegriffen hätte, wären sie uns sicher zur Hilfe geeilt.« Sie gähnte und streckte sich. »Der W olf ist fort. Jetzt möchte ich nur noch schlafen.«
Sie schaute an der Felswand empor, deren Ende im Dunkeln nicht zu erkennen war und sagte nachdenklich: »Wer weiß, was uns morgen da oben erwartet.«
Die Hohe Feste
1
D as Zimmer war groß. V iel zu groß. Und es war dunkel. So dunkel. Überall Schatten.
Jordi konnte nicht schlafen. Er hatte A ngst.
Die A ngst war neu. In der Nacht zuvor war Rik noch bei ihm gewesen. Jetzt war
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