Die Hüterin des Schattenbergs
beobachtete, wie Rik und der zweite Drachenreiter auf dem Plateau landeten.
»Sofort.« Salvias beschattete die Stirn mit der Hand und schaute in Richtung der untergehenden Sonne. »Hier oben wird es noch eine W eile hell sein. Lange genug, um die Hohe Feste zu erreichen.«
»Und die Drachen?«, erkundigte sich Jemina.
»Die warten hier.« Salvias löste sein Bündel vom Sattel, schulterte es und stapfte auf die Felswand zu. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, schaute sich zu Jemina um und fragte: »Was ist? W illst du W urzeln schlagen?«
Jemina überließ den Drachenreitern die Führung. Die beiden schienen sich auszukennen, ganz so, als ob sie den W eg zur Hohen Feste nicht zum ersten Mal gingen. Rik lief ein paar Schritte hinter Jemina und bildete das Schlusslicht.
Jenseits des Plateaus gelangten sie in einen dichten Nadelwald, dessen A usläufer sich über die gesamte Flanke des Berges bis hinauf zur Baumgrenze erstreckten. Unter den Bäumen war es gerade noch hell genug, um die Drachenreiter nicht aus den A ugen zu verlieren.
Der W eg führte stetig bergauf. Je weiter sie in den W ald eindrangen, desto steiler wurde er. Jemina keuchte. Sie war inmitten sanft gewellter Hügel aufgewachsen und solch einen A ufstieg nicht gewohnt. Schon bald rang sie in der dünnen Luft um A tem, wurde langsamer und fiel zurück. Rik zog an ihr vorbei, aber sie klagte nicht, sondern versuchte, sich die Schwäche nicht anmerken zu lassen, um mit ihm und den Drachenreitern Schritt zu halten.
Unterwegs hielt sie nach W egmarken und Besonderheiten A usschau, um den W eg zurück jederzeit auch allein finden zu können. Dabei glaubte sie im Zwielicht am W egrand hin und wieder die verwitterten Überreste von Mauern zu erkennen; Steine und Steinhaufen, die einmal sorgfältig aufgeschichtet gewesen sein mussten. Längst hatte die Natur dieses W erk von Menschenhand zurückerobert. Moose hatten ihren T eppich über die Steine gebreitet und in den Fugen hatten Farne und Gräser ihre W urzeln geschlagen. Dennoch waren die Zeugnisse aus längst vergangenen T agen nicht zu übersehen.
»Hier muss einmal eine Straße zur Hohen Feste hinaufgeführt haben.« Rik, der auf Jemina gewartet hatte, schien ähnliche Gedanken zu hegen. »Sieh nur.« Er deutete auf den Boden. »Unter dem Nadelteppich kann man an manchen Stellen sogar noch die Pflastersteine erkennen.«
Jemina richtete den Blick auf die Stelle, die Rik ihr zeigte und nickte. »Orekh muss sehr wohlhabend gewesen sein, wenn er es sich leisten konnte, den ganzen W eg zur Feste mit Pflastersteinen auslegen zu lassen.«
»Ob es wirklich der ganze W eg ist, muss sich erst noch zeigen.« Rik seufzte. »Hier unten ist es noch nicht so steil. A ber da oben …« Er ließ den Satz unvollendet und deutete voraus: »Ich glaube nicht, dass es da noch eine Straße gibt.«
Jemina legte den Kopf in den Nacken, schaute nach oben und erschrak. Durch eine Lücke im A stwerk der Nadelbäume konnte sie einen Blick auf graue Felswände erhaschen, die sich hoch über ihnen nahezu senkrecht in schwindelerregende Höhe reckten.
»Du … meinst, wir müssen da hinaufklettern?«, fragte sie.
»Wer weiß …« Rik zog die Schultern in die Höhe.
»Es gibt bestimmt einen anderen W eg.« Jemina wollte nicht daran denken, dass sie die steile W and würde erklimmen müssen. »Corneus sagte doch, dass schon viele dort oben waren.«
»Er sagte aber auch, dass keiner zurückgekommen ist«, gab Rik zu bedenken.
»Ja, weil die Geisterwesen in der Feste sie getötet haben.«
Rik schaute Jemina von der Seite her an. »Das hat er so nicht gesagt, vielleicht sind sie auch einfach nur in den T od gestürzt.«
»Danke fürs Mutmachen.« Jemina warf Rik einen finsteren Blick zu und stutzte.
»Was ist?« Rik entging ihr plötzliches Erschrecken nicht.
»Ich … ich weiß nicht.« Jemina blinzelte verwirrt und schaute noch einmal in den W ald hinein. »Ich könnte schwören, dass ich eben da hinten ein Licht gesehen habe.«
»Ein Licht?« Rik sah nur flüchtig in den W ald und schüttelte dann den Kopf. »Da ist nichts. Das musst du dir eingebildet haben.« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Lass uns weitergehen. Sonst verlieren wir den A nschluss.«
Jemina zögerte kurz, dann nickte sie und setzte sich wieder in Bewegung. Rik hatte recht. Der Berg war, abgesehen von den wenigen Mutigen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zur Hohen Feste aufgemacht hatten, seit Generationen menschenleer. Sie
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