Die Huette
huschte über ihr Gesicht, als sie weitersprach: »Dann lass uns deine beiden Worte benutzen: Verantwortung und Erwartung. Bevor diese Worte zu Substantiven wurden, waren es zunächst meine Worte, Substantive, die von Bewegung und Erfahrung erfüllt waren, von der Fähigkeit zu reagieren und einer erwartungsvollen Wachheit. Meine Worte sind lebendig und dynamisch - voller Leben und Möglichkeiten. Deine Worte sind tot, voll von Verboten, Ängsten und Werturteilen. Darum findet sich das Wort Verantwortung nirgendwo in der Heiligen Schrift.«
»Oje!«, sagte Mack und verzog das Gesicht, als er erkannte, worauf Sarayu hinauswollte. »Wir benutzen dieses Wort ziemlich oft.«
»Die Religion benutzt Gesetze, um sich selbst zu legitimieren und Macht über die Menschen zu erlangen, denn Kirchen können nur überleben, wenn sie Anhänger um sich scharen. Ich dagegen schenke euch die Fähigkeit zu reagieren, und eure Reaktion ist es, in jeder Situation frei dafür zu sein, zu lieben und zu dienen. Und deshalb ist jeder Augenblick anders und einzigartig und wunderbar. Weil ich eure Fähigkeit zu reagieren bin, muss ich in euch gegenwärtig sein. Würde ich euch einfach eine Verantwortung auferlegen, müsste ich überhaupt nicht bei euch sein. Dann hättet ihr eine Aufgabe, die ihr erledigen müsstet, eine Verpflichtung, die ihr erfüllen müsstet. Dann könntet ihr versagen.«
»Oje! Oje!«, sagte Mack wieder, nicht sonderlich begeistert. »Nehmen wir beispielsweise die Freundschaft und betrachten wir, wie drastisch sich eine Beziehung verändern kann, wenn man aus einem Begriff das Element des Lebens entfernt. Mack, wenn du und ich Freunde sind, existiert in dieser Beziehung ein Element des Erwartens. Wenn wir einander sehen oder gerade voneinander getrennt sind, erwarten wir, dass wir Zeit zusammen verbringen, fröhlich sind und miteinander reden. Dieses Erwarten ist ein Verb, etwas Fließendes, das nicht konkret definiert ist. Es ist lebendig und dynamisch und alles, was aus unserer Zweisamkeit erwächst, ist ein einzigartiges Geschenk, das nur uns bei den gehört. Aber was geschieht, wenn ich aus diesem unspezifischen, lebendigen Erwarten ein starres Substantiv mache, eine feste, auf Regeln beruhende Erwartung - sei es explizit oder unausgesprochen? Plötzlich gibt es dann in unserer Freundschaft Gesetze. Nun musst du dich in einer Weise verhalten, die meinen streng definierten Erwartungen entspricht. Unsere lebendige Freundschaft degeneriert zu etwas Totem, Starrem. Es geht nicht länger um dich und mich, sondern darum, welche Rechte und Pflichten Freunde haben, welche Verantwortung eine Freundschaft mit sich bringt.«
»Oder«, bemerkte Mack, »die Verantwortungen eines Ehemannes, Vaters, Arbeitnehmers und so weiter. Ich verstehe. Da gefällt es mir doch viel besser, in einem offenen Raum des Erwartens zu leben.« »Mir auch«, sagte Sarayu.
»Aber«, wandte Mack ein, »würde denn nicht alles im Chaos versinken, wenn es keine klar festgelegten Erwartungen und Verantwortlichkeiten gäbe?«
»Nur wenn du versuchst, ganz von dieser Welt zu sein und unabhängig von mir zu leben. Verantwortlichkeiten und festgelegte Erwartungen sind die Grundlagen für Schuldgefühle, Scham und Verurteilungen, und sie erzeugen ein System, in dem Leistung zum einzigen Kriterium für Identität und Ansehen wird. Du weißt selbst nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn man nicht die Erwartungen eines anderen erfüllt.«
»Ja, allerdings!«, sagte Mack leise. »Das war wirklich alles andere als angenehm!« Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und er fügte hinzu: »Willst du damit sagen, dass ihr überhaupt keine Erwartungen an mich habt?«
Nun ergriff Papa wieder das Wort. »Mein Liebling, ich habe niemals irgendetwas von dir oder einem anderen Menschen erwartet. Hinter Erwartungen steht die Vorstellung, dass jemand die Zukunft nicht kennt und versucht, das Verhalten anderer zu kontrollieren, um die von ihm gewünschten Resultate zu erzielen. Die Menschen versuchen, das Verhalten anderer überwiegend durch Erwartungen zu kontrollieren. Ich aber kenne euch und weiß alles über euch. Warum sollte ich etwas anderes erwarten als das, was ich bereits weiß? Das wäre dumm. Und: Weil ich nichts von euch erwarte, könnt ihr mich niemals enttäuschen.«
»Was? Du warst noch nie von mir enttäuscht?« Das zu verdauen fiel Mack schwer.
»Noch nie!«, sagte Papa mit Nachdruck. »In meiner Beziehung zu dir gibt es ein ständiges, lebendiges Erwarten,
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