Die Hure: Roman (German Edition)
auch hier. Es gibt nichts mehr. Oder doch, es gibt etwas, doch das ist unerheblich. Es liegt außerhalb der Vorstellungskraft, und das ist gerade so, als würde es gar nicht existieren.
Aphrodite blickt durch das Busfenster. Sie sieht einen Slum, aus großen Blechtonnen schlagen Flammen. Die Frau erzählt, dies sei das Wohngebiet der Politiker und Manager. Aphrodite erkennt einige Gesichter. Jemand wirft einen Molotow-Cocktail an das Busfenster. Aphrodite schreit auf.
»Das machen sie immer«, erklärt ihre Führerin beruhigend.
Schließlich, nach Stunden oder Jahrhunderten, erreichen sie eine Reihenhaussiedlung. Alle Häuser sind identisch. Jedes hat ein kleines Gärtchen, alle sind im selben gelblich-grauen Farbton gestrichen, und an jedem Fenster hängen die gleichen Vorhänge.
Aphrodite schreit entsetzt auf. Die Frau tätschelt ihre Schulter.
Sie betreten eines der Häuser, das sich nur durch die Hausnummer von den anderen unterscheidet. Die Frau knipst im Flur das Licht an. Das Haus ist im Stil der 1950er Jahre eingerichtet, aber die Qualität der Möbel verrät, dass sie in Wahrheit bei Ikea gekauft wurden. In der Küche stehen ein Kühlschrank mit Gefrierfach, eine Mikrowelle sowie ein Tisch und Stühle. Auf dem Tisch liegen geflochtene Sets aus Plastik. Im Wohnzimmer gibt es einen Fernseher; er läuft, aber es ist kein Programm zu sehen. Davor ein helles Sofa und ein niedriger Tisch. An der Wand ein Bücherregal, in dem alle Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufgereiht sind, sonst nichts. Im Schlafzimmer steht ein Doppelbett, auf dem Nachttisch Fotos von Kindern. Von wessen Kindern?
In wachsender Panik sucht Aphrodite das Bad. Stattdessen findet sie einen Raum mit Waschmaschine, Trockner, Bügelbrett, Staubsauger …
»Das nennt man Hauswirtschaftsraum«, sagt die Führerin, die ihr gefolgt ist. »Aber das Schlimmste kommt noch«, sie seufzt und führt Aphrodite ins Kinderzimmer. Dort steht ein Etagenbett, und auf dem Fußboden liegt jede Menge Kram. »Sie sind gerade in der Schule«, erklärt die Führerin.
Aphrodite setzt sich auf das untere Bett und lässt den Kopf auf die Knie sinken. Sie fragt die Frau, ob es einen Ausweg aus alldem gibt. Die Frau antwortet, man habe gelegentlich etwas in der Art gehört, doch es sei das Beste, alle Hoffnung fahren zu lassen.
»Aber du hast Nachbarn«, fügt sie nach einer langen Pause hinzu.
»Ja, so sieht es aus. Ist das gut?«
Die Frau fasst sie an der Hand und führt sie in den Garten hinter dem Haus. Er ist an zwei Seiten mit einem zwei Meter hohen Holzzaun abgegrenzt. An der dritten Seite steht eine niedrigere grüne Hecke. Sie stellen sich auf die Plastikstühle neben dem Bretterzaun. Die Frau zeigt in den Nachbargarten hinüber, in dem auf Sonnenstühlen ein schöner junger Mann und eine – zumindest aus der Nähe betrachtet – erheblich ältere Frau liegen.
»Adonis! Und Persephone! Die wohnt also auch hier. Ich dachte, sie besitzt das ganze Reich.«
Die Führerin lacht auf und erklärt, dass Persephone nicht den ganzen Tod, aber immerhin das Gebiet der Götter und Dichter besitzt. Sie ist die Vermieterin. »Also steh dich gut mit ihr.«
Aphrodite setzt sich auf den Stuhl, stützt die Arme auf die Knie und schaut in die Ferne, wo nur eine flache Ebene zu sehen ist, auf der ebenfalls lauter gleichartige Reihenhäuser stehen. Umgeben von einem schwarzen, steinigen Acker. Hier soll man also alle Hoffnung fahren lassen.
Aber ich gebe nicht auf, sagt sie sich.
Es klopft dreimal laut. Der Ehemann? Die Kinder? Etwas Schlimmeres?
Zögernd öffnet Aphrodite die Tür.
Davor steht Persephone in ihrer ganzen, hundertsechzig Zentimeter großen Gestalt, der die Stilettos und der Hut allerdings mindestens sechzehn Zentimeter hinzufügen. Sie trägt eine kleine, enge Jacke und ein wadenlanges, getüpfeltes rotes Kleid. Die schwarzen Haare sind so präzise gekämmt, dass sie eher einer Kopfbedeckung gleichen als einer Frisur, und als Krönung thront darauf ein kleiner Topfhut, aus dem ein steifer schwarzer Schleier ragt. Ihre Lippen formen ein tiefrotes Lächeln, das man irrtümlich für herzlich halten könnte. Doch Aphrodite weiß, dass sich hinter dem Lächeln Eis verbirgt. Tiefes, schwarzes Herzeis.
»Hallo«, sagt Aphrodite lächelnd.
Persephone erwidert den Gruß. Sie tauschen Wangenküsse aus, bei denen ihre Lippen das Gesicht der anderen nicht berühren.
»Wie schön, dich zu sehen!«, ruft Persephone.
Sie sagt, sie sei gekommen,
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