Die Hure: Roman (German Edition)
vorangehen, doch der Ruderer hat keine Eile. Daher hat Aphrodite genug Zeit, sich umzuschauen. Einmal ist sie im Nachtbus eingeschlafen und in Espoo gelandet. Dort sah es ähnlich aus.
Sie möchte weinen, aber irgendwie sind alle Gefühle verschwunden. Und an einem Ort, wo alle Gefühle fehlen, einschließlich der Liebe, ist sie überhaupt nichts Besonderes mehr. Allerdings könnte es sein, dass die Gefühllosigkeit eine Nachwirkung der Narkose ist.
Sie betrachtet das Ufer gegenüber. Dort drängen sich Leute. Plötzlich wird Aphrodite nervös. Das ist doch ein Gefühl? Sind also doch nicht alle Gefühle verschwunden?
Sie nimmt Lipgloss aus dem Spalt zwischen ihren Brüsten und verteilt ihn auf ihren prallen Lippen. Manche behaupten, sie seien das Werk eines Schönheitschirurgen, doch das ist gelogen. Aphrodite wurde so geboren.
Die Menschen weichen zurück, als das Boot sich dem kleinen Anleger nähert.
»Gibt es Fahrgäste in die Gegenrichtung?«, fragt der Ruderer und lacht boshaft.
Jemand heißt Aphrodite willkommen im Tod. Aphrodite lächelt dankbar. Überall Menschen, Hunderte, vielleicht Tausende, vielleicht vierzigtausend Männer und Frauen.
»Wohin kommen die toten Tiere?«, fragt sie.
»Ach, es wäre doch zu viel verlangt, dass sie selbst im Tod noch die Unterdrückung durch die Menschen ertragen müssten«, wird ihr geantwortet.
Aphrodite sieht die Sprecherin genauer an. Es ist eine Frau, tatsächlich. Glatzköpfig, mit tiefen Schatten unter den dunklen Augen. Am Hals hat sie einen schrecklichen Abdruck, als hätte sich eine dünne Schnur in ihre Haut gegraben. Und an den Handgelenken tiefe Einschnitte. Im Lächeln der Frau liegt eine so bodenlose Traurigkeit, dass Aphrodite Tränen in die Augen steigen.
Die Frau erklärt Aphrodite, Ironie sei die Kunst des Todes. Deshalb hat gerade sie die Aufgabe erhalten, Aphrodites Führerin zu sein. Im Leben hat sie sich um nichts anderes bemüht als um Liebe und Schönheit, doch beides blieb ihr versagt. Das Leben hätte angenehm sein und sie hätte glänzen und aufblühen können, doch sie sah nur Schrecken und Tod. »Natürlich sollst du dich schuldig fühlen, meine Göttin, die mich verlassen hat.«
Die Frau blickt sie ernst an. Aphrodite weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, sie hat bisher noch nie ein Gewissen gehabt, geschweige denn ein schlechtes Gewissen. Sie tritt von einem Bein aufs andere und dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Doch da lacht die Frau plötzlich. Es klingt nicht annähernd so grausig, wie man meinen könnte. Sie berührt Aphrodite an der Schulter, und in ihrer Berührung ist nichts als Wärme.
Oder es wäre reine Wärme, wenn sie lebendig wären und warmes Blut durch ihre Adern fließen würde. Doch so ist es nicht.
Aphrodite weiß ihre Führerin nicht recht einzuordnen. Ihr merkwürdiger Sinn für Humor ist irgendwie beklemmend. Auch das ist ein neuartiges Gefühl. Andererseits ist schräger Humor immer noch besser als vollständige Humorlosigkeit.
Die Frau wendet sich ihr zu. »Du weißt wohl, dass ich alle deine Gedanken höre.«
Aphrodite erschrickt. Doch dann lacht die Frau wieder. Aphrodite kichert ebenfalls, aber unsicher, fragend.
»Im Tod gibt es keine Privatsphäre, aber daran gewöhnt man sich. Irgendwann. Es ist so ähnlich wie im Krankenhaus.«
»Wie heißt du?«
»Weißt du nicht, wer ich bin?«, fragt die Frau ernst. Und dann lacht sie wieder herzhaft.
Sarah
Ah-ah Sarah Kane
pray Her name
and read Her plays.
Aphrodite weiß nicht, wer die Frau ist, geniert sich aber zu fragen. Sie fummelt an ihren leuchtenden Haaren und lacht mit der Unbekannten.
Gemeinsam gehen sie eine verlassene Straße entlang, bis sie eine Bushaltestelle erreichen. Die Frau sagt, wahrscheinlich müssten sie eine Weile warten. Sie warten zwölf Jahre.
So fühlt es sich jedenfalls an.
Als der Bus kommt, ist er voll besetzt. Niemand spricht. Auch das hat Aphrodite schon erlebt, irgendwo, irgendwann … Die Frau erklärt, es sei nicht ratsam, zu Fuß zu gehen, die Entfernungen seien heutzutage so riesig. Der Tod vergrößert sich wie das Weltall, dessen Grenzen niemand kennt.
Die Frau erklärt, sie seien auf dem Weg in das Wohngebiet der Götter und Dichter. Um dorthin zu gelangen, müsse man zweimal umsteigen. Aphrodite seufzt. Die Frau sagt, Zeit hätten sie ja genug, die ganze Ewigkeit. Oder zumindest so lange, bis die Sonne erlischt. Dann endet auch die Existenz des Todes, weil niemand mehr stirbt. Alles hört auf,
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