Die Hure: Roman (German Edition)
den Lichtkegel der Taschenlampen starrt. Sie legt die Hand an die Stirn, um die Wachmänner zu betrachten. Nur der eine der beiden sieht halbwegs gut aus, aber er ist möglicherweise eine Frau. Aphrodite reißt sich das Kleid vom Leib, steht einen Moment nackt da und verwandelt sich dann in eine weiße, na ja, eher grau gefleckte Taube. Sie fliegt hinter den Mädchen und Milla her. Das feuerrote Kleid fällt vor den Sicherheitsleuten auf die Erde.
Die Mädchen fliegen nur zwei Kilometer weit. Sie landen auf einer schmalen Straße vor einem kleinen Geschäftslokal. Die Tür ist mit Unmengen von Weihnachtslichtern dekoriert, und im Schaufenster sitzt eine goldene Katze, die mechanisch mit ihrer Pfote winkt. In Buchstaben aus goldenem Klebeband steht am Fenster: » KANYAS MASAGE SALONG 30 min. 20 Euro.«
Das Mädchen, an dessen Bein sich Milla geklammert hatte, ist wütend. Es zerkratzt ihr Gesicht, spuckt und krächzt böse. Aphrodite landet ebenfalls und verwandelt sich wieder in eine Frau. Sie zieht das tobende Mädchen von Milla weg, nicht gewaltsam, sondern sehr, sehr mütterlich. Sie zeigt auf Millas Bauch und droht dem Mädchen mit dem Zeigefinger. Die Kleine starrt sie aus ihren schwarzen, asiatischen Augen an und dreht sich dann plötzlich um: Jemand öffnet die weihnachtlich leuchtende Tür. Die Mädchen stürmen hinein. Milla und Aphrodite folgen ihnen.
»Business geschließt jetz«, sagt eine wundervoll gebaute Asiatin, sicher Kanya selbst.
»Wir sind nicht deshalb hier«, beginnt Milla.
»Was ihr wollen?«, fragt die Frau.
Milla erklärt ihr, wie ihre beste Freundin verschwunden ist und dann an den Hauswänden Bilder von dieser Freundin aufgetaucht sind und man auf den Bildern sieht, dass sie grausam gefoltert wurde. Daher habe Milla herausfinden wollen, wer die Bilder malt, weil sie glaubte, es sei der perverse Mörder, und dann hätten sie die Erinnyen entdeckt, und deshalb seien sie jetzt hier. Vielleicht könne Kanya irgendwie erklären, was passiert ist.
Die Frau lacht leicht meckernd und bietet ihnen witzig aussehende Kekse an. »Sie sind kein Fairytale«, sagt sie dann resolut. »Sie sind dort gewesen Huren.«
Kanya holt einen Stapel primitive Zeichnungen hervor. Die erste zeigt ein Haus mit vergitterten Fenstern, in dem ein Mann auf einem Mädchen liegt. Zwölf andere Mädchen werfen Sachen aus dem Koffer des Mannes und schlüpfen hinein. Auf dem nächsten Bild nimmt der Mann seinen Koffer, während das dreizehnte Mädchen in eine Zollfrei-Tüte hüpft, die der Mann ebenfalls mitnimmt.
Auf dem dritten Bild wird eine Frau, die den Koffer öffnet, in Stücke gerissen. Die letzte Zeichnung zeigt ein Badezimmer, wo ein nackter Mann in klitzekleine Fetzen zerrieben und durch den Abfluss in die Kanalisation gespült wird.
Milla fragt, warum die Mädchen so aussehen. Und wer mit Prostituierten, die eine so merkwürdige Gestalt haben, Sex möchte.
Kanya erklärt, im Bordell hätten die Mädchen noch nicht so ausgesehen. Sie waren liebreizende, zierliche Mädchen. Im Alter zwischen acht und dreizehn. Was man ihnen antat, nachdem sie aus ihren Familien entführt worden waren, hat tiefe Spuren hinterlassen. »Inside come outside now.«
»Gibt es noch mehr von ihnen?«, erkundigt sich Aphrodite.
»Hier alle, dreizehn.«
»Warum malen sie Bilder von Kalla?«, fragt Milla.
»Nicht weiß, very bad communication.« Die Mädchen sind erst seit einigen Tagen bei Kanya. Sie sprechen nicht, zeichnen nur. »Maybe wir never erfahren.«
Nachdem sie den Sextouristen und seine Frau in Stücke gerissen hatten, entdeckten die Mädchen, dass ihnen Flügel gewachsen waren. Fliegen konnten sie noch nicht, denn die Flügel waren feucht und mit Blut beschmiert. Sie ließen sie einen Tag lang trocknen. Als der Abend kam, zerschlugen sie ein Fenster in der Wohnung des Ehepaars und flogen hinaus in die Stadt und in die Dunkelheit.
Wie ein Vogelschwarm wurden sie von einem ganz bestimmten Ort angezogen. Es handelte sich um ein hohes Gebäude, das zur Straße hin eine ganz normale Fassade hatte, während die Wand zum Innenhof aus Glas war. Sie versammelten sich jeden Abend, um das Gebäude und die Ereignisse im Innern zu betrachten. Sie lernten, die leuchtend bunte Frau wiederzuerkennen, die den anderen diente. Mit ihren langen schwarzen Haaren war sie ihnen ähnlich. Eine größere Version ihrer selbst.
Sie konnten sich genau vorstellen, was in dem Gebäude gesprochen wurde, obwohl sie die Worte nicht hörten, und
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