Die Hure: Roman (German Edition)
selbst wenn sie sie gehört hätten, wäre ihnen die Sprache unverständlich gewesen. Sie sahen, wie die andere Frau mit der grellbunt Gekleideten redete. Und wie die Grellbunte zu Füßen der anderen herumkroch. Und wie die Männer die Grellbunte behandelten.
Sie erwarteten, dass die Grellbunte nicht mehr in das Haus ginge. Dass sie sich rettete. Aber vielleicht begriff sie nicht, was ihr bevorstand.
Sie waren auch dort, als die andere Frau die Grellbunte schwer verletzte. Und sie sahen alles, was der Grellbunten danach angetan wurde. Wie man ihr die Kleider vom Leib schnitt und wie ihre nackte Haut die Farbe wechselte und mit ihrem Blut beschmiert wurde. Sie sahen auch, wie man sie in einen schwarzen Plastiksack stopfte und einer sie nach unten trug. Sie flogen an der Glasfront hinunter, aber schließlich verschwanden der Mann und der Sack aus allen Fenstern.
Sie schubsten sich gegenseitig bei dem Versuch, vom untersten Fenster aus dem Mann hinterherzuspähen. Kurz darauf schoss unter dem Haus ein heller Lichtstrahl hervor, der sie auf den Rücken warf. Da wussten sie, dass die Frau beseitigt worden war. Das hatte man auch ihnen oft angedroht.
In dieser Nacht stoben sie Öl verspritzend durch die Stadt, bis sie ein paar Wandbekleckser entdeckten. Sie erschreckten die Burschen fast zu Tode, klauten ihnen eine Tüte Spraydosen und begannen, überall in der Stadt Bilder von der grellbunt gekleideten Frau zu malen.
Wie Kanya erzählt, ist eine der Fliegenflüglerinnen ihre Cousine Isra. Milla erkennt in ihr das Mädchen, an dessen Bein sie sich beim Abflug vom Einkaufszentrum geklammert hatte. Isra hat noch kindlich runde Gliedmaßen, während einigen der anderen Mädchen stattdessen schwarz gepanzerte Arme und Beine gewachsen sind.
Isra wurde entführt, sagt Kanya. Die Verwandten erzählten ihr über Skype, dass Isras Mutter die Polizei gedrängt hatte, ihre Tochter zu suchen, doch man hatte ihr gesagt, die Beamten könnten nicht hinter jedem Kind herlaufen. Und außerdem trage die Mutter doch selbst die Schuld am Verschwinden des Mädchens: Man dürfe ein Kind eben nicht allein in den Wald gehen lassen. Daraufhin stellte die Mutter Vermisstenanzeigen ins Netz, in ihrer Verzweiflung auch auf Seiten, die, wie sie wusste, von Kinder liebenden Männern besucht wurden. Die Verwandten schickten auch Kanya ein Foto von Isra, damit sie die Vermisstenmeldung in den asiatischen Geschäften in ihrer Stadt aushängen konnte.
Nachdem sie das Skype-Gespräch beendet hatte, sah Kanya auf die matschige, von schwarzen Schneeklumpen bedeckte Straße und hatte das Gefühl, eine glückliche und privilegierte Frau zu sein. Auch sie musste für Geld allerlei tun, aber wenigstens war sie keine Sklavin. Und sollte ihr etwas Schlimmes zustoßen, würde die Polizei ihr helfen. Davon war sie überzeugt.
Eines Tages hörte sie es vor der Tür ihres kleinen Salons schaben und rascheln. Sie dachte, es wäre eine Katze oder ein Luchs. Oder gar der Mumintroll. Als sie die Tür öffnete, entdeckte sie die Mädchen auf der Straße. Die Sonne ging gerade auf, ihr Licht blendete Kanya, und sie sah nur die Silhouetten der Kinder. Zwischen den zwölf anderen trat Isra hervor. Ihr Gesicht war noch wiederzuerkennen, es hatte noch die Züge des Zahnspange tragenden, lächelnden Schulkindes, dessen Bild neben dem Eingang zum Massagesalon hing.
Kanya erzählt niemandem, dass die Mädchen bei ihr aufgetaucht sind. Von Tag zu Tag werden Isras Gesichtszüge immer fremder. Vielleicht könnte ihre Mutter sie noch erkennen. Aber welche Mutter möchte ihr Kind so sehen? Vielleicht ist es das Beste, wenn sie den Kindern einfach Unterschlupf gewährt.
Milla fragt, ob Isra mit Kanya gesprochen hat. Kanya schüttelt lächelnd den Kopf. Isra spricht nicht, aber sie zeichnet mehr als alle anderen. Viele der Mädchen sind nicht einmal zu dieser Art der Kommunikation fähig. Wenn man ihnen Papier gibt, spucken sie schwarze Schmiere darauf und zerknüllen es. Oder stecken es in den Mund. Oder reißen es in Sekundenschnelle in Fetzen. Der traurigste Fall ist das kleinste Mädchen mit den größten Augen. Wenn man sich ihr zu nähern versucht, schreit sie gellend und spuckt um sich. Sie entfernt sich nie aus dem Kreis der Geflügelten. Wenn die anderen schlafen, sitzt sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt, wacht und kratzt sich dabei Arme und Beine auf, die bereits von schrecklichen Narben übersät sind.
Aphrodite bringt es nicht über sich, die Mädchen
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