Die Hure: Roman (German Edition)
überlegt, wie alt der Traum-Morpheus sein mag.
Sie betreten den Hof des Schlosses mit dem hohen Turm. Aphrodite erschrickt, als sie zu ihren Füßen zwei zuckende Fleischhaufen entdeckt. »Was zum Teufel ist das?!«
»Ach die«, sagt Morpheus gleichgültig.
»Was soll das sein?« Aphrodite sieht nur blutiges Fleisch.
»Erkennst du sie nicht?«
Aphrodite schweigt.
Sie gehen ins Haus.
»Das ist ja die Heilige Miracle!«, ruft Aphrodite.
»Nein, das ist die Armee der Amazonen.«
»Und ich habe doch recht«, erwidert Aphrodite beharrlich. Und sie hat recht: Da kriecht Kalla, vervielfältigt, seltsam gekleidet und zahnlos. Aphrodite legt unwillkürlich eine Hand vor den Mund, als sie dieses letztgenannte widerwärtige Detail entdeckt.
Morpheus berichtet, den Frauen seien Zähne und Fingernägel entfernt worden wie gefährlichen Haustieren oder Nutztieren. »Außerdem wollte der Typ beweisen, dass Frauen weniger Zähne haben als Männer.«
Aphrodite schleicht sich hinter den leger in eine dunkle Kutte gehüllten Mann, um zu sehen, was dieser auf das aus Menschenhaut hergestellte Pergament zeichnet. Die Zeichnung trägt den Titel »Next Season«. Sie zeigt eine Frau in einem sackartigen schwarzen Kleid mit einer Art Kapuze, die nur die Augen freilässt.
MANN: Es ist besser, die Frauen künftig so zu kleiden, damit man ihren fehlerhaften Körper nicht anzugucken braucht.
»Er meint es ernst«, versichert Morpheus. Aphrodite kippt Tinte auf die Zeichnung. Auf dem Bild breitet sich ein braunroter Fleck über den Leib der Frau aus. Der Mann starrt eine Weile darauf und stellt dann fest, dass dies eine grandiose Idee ist: Der Fleck sieht exakt aus wie eine Vagina, von der alle äußeren Teile entfernt worden sind.
MANN: So ist es für den Mann leichter und angenehmer, seinen Samen in die Frau zu pflanzen. Und die Geburt verläuft auch effektiver.
»Man würde also die Schamlippen und die Klitoris und alles entfernen?«, fragt Aphrodite entsetzt.
MANN: Zum Beispiel mit einem scharfen Stein! Das heißt, heute gibt es ja auch andere, vernünftige Instrumente, Rasierklingen und so weiter.
»Keine Mutter wird zulassen, dass man ihrer Tochter so etwas antut!«
MANN: Hmm, seltsam, es ist, als ob der Wind mir Worte zuträgt. Wenn ich richtig gehört habe, sagt er: Tu es zuerst bei der Mutter, dann wird sie es bei ihrer Tochter tun.
»Herrgott noch mal!«
»Hast du genug gesehen?«, fragt Morpheus.
Ja, Aphrodite hat mehr als genug gesehen. Sie brechen auf. Aber auf dem Hof bleibt Aphrodite kurz stehen, um die zitternden, wimmernden Fleischkindchen… -haufen zu betrachten. Warum hat sie gerade an Kindchen gedacht? Sie weiß es nicht. »Bloß weg hier.«
»Es muss etwas geschehen«, sagt Aphrodite, sobald sie erwacht.
»Hä?« Milla springt erschrocken aus dem Bett.
»Wenn wir nicht sofort handeln, wird alles total pimmelig.«
Aphrodite erzählt Milla, was sie gesehen hat. Das heißt, alles erzählt sie ihr nicht. Sie erwähnt nicht, dass die Amazonen in Wahrheit Millas beste Freundin sind. Und auch von den Fleischdingern spricht sie nicht.
»Also gut. Normalerweise kaufen Patentanten dem Kind ja einen Löffel oder so, aber du willst mit deinem Patensohn die Welt retten?«
»Es muss sein.«
Aphrodite kommt nur eine Lösung in den Sinn: Sie muss das mächtigste Wesen der Welt zu Hilfe rufen.
»Irgendeinen Gott?«, fragt Milla.
»Nein.«
Das mächtigste Wesen der Welt ist kein Gott. Denn die Götter sind Erfindungen der Menschen. Aber die Menschen sind Erfindungen der Götter und deshalb viel stärker als die Götter selbst. Das älteste und mächtigste Wesen hat viele Namen. Einer lautet Schlange, ein zweiter Lilith. Diesen Namen kennen alle. Aber kaum jemand kennt ihre wahre Geschichte.
Lilith ist eine extrem zurückgezogen lebende Person und sehr schwer zu erreichen. Sie weigert sich, moderne Technik zu benutzen. Aphrodite bleibt nichts anderes übrig, als ein Fax zu schicken. Stunden später kommt die Antwort: »Warum sollte ich helfen?«
»Du musst. Du musst ganz einfach. Sei so gut, es ist wichtig, bitte!«
Aus dem Faxgerät kommt eine barsche Antwort: »Willst du ernst genommen werden? Lern endlich zu sagen, was Sache ist.«
Aphrodite beißt sich auf die Lippen und schreibt: »Die Sache der Frauen ist unser aller Sache. Wir haben die Pflicht, für unsere Schwestern zu kämpfen und gegen Unterdrückung vorzugehen. Es lebe die feministische Revolution.«
Den ganzen Tag über kommt keine Antwort von
Weitere Kostenlose Bücher