Die Hure: Roman (German Edition)
Morpheus bereits zu lallen. Das Geräusch dringt in Millas Schlaf, und sie wähnt sich in einem fremden, exotischen Land.
Ach ja, in so einem Land ist sie ja tatsächlich.
Gähnend steht sie auf und tritt an die Wiege ihres Sohnes. Milla hat immer geglaubt, Babys würden beim Lallen lächeln, aber Morpheus macht ein ernstes Gesicht. Er sieht wie ein Politiker aus, vielleicht wie Paavo Lipponen oder wen es da sonst noch so gibt. Milla muss lachen. »Komm und hör dir das an!«, ruft sie Aphrodite zu. »Er lallt schon, er ist begabt.«
»Mmm. Eigentlich lallt er nicht. Er spricht Altgriechisch«, erwidert Aphrodite.
»Wahnsinn! Echt?«
Aphrodite erklärt, das Kind erzähle, es sei in der vorigen Nacht im Königreich Phallustein gewesen und habe dort die Amazonen angetroffen. »Die Amazonen wurden zu Dienerinnen gemacht«, erklärt Morpheus, den Tränen nahe. »Sie haben ihre Waffen niedergelegt und sind demütig und schwach geworden.«
»Wo liegt Phallustein? Irgendwo in Deutschland?«, erkundigt sich Milla.
Aphrodite fragt das Kind.
»Weißt du das nicht?«, antwortet Morpheus, das heißt, er antwortet nicht, sondern er fragt zurück.
»Nein, ich glaube nicht.«
Der Junge sagt, es sei unten, tief, tief, tief unten.
Morpheus spricht von den Amazonen und von ihrer Anführerin Penthesilea, die Homer zufolge von Achilles getötet und geschändet wurde. »Homer war ein Lügner«, sagt Morpheus und wird knallrot, wie immer vor einem Schreianfall. »Die Amazonen wurden nicht unterworfen, oder?«
»Ach, liebstes Kind, oje, weine doch nicht.« Aphrodite schwenkt eine Rassel mit einem aufgemalten Smiley vor dem Gesicht des Kindes. »Guck mal, wie süß.«
Morpheus gluckst eine Weile, erinnert sich dann aber wieder an den Ernst des Lebens. »Tante Aphrodite, sie sind doch nicht unterworfen worden?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Warum sind die Männer so beschissen?«
»Das sind sie nicht, jedenfalls nicht alle. Und du bist, also du gehörst ja auch zu diesem Geschlecht.« Morpheus bekommt einen Schreianfall, der bis nachmittags anhält.
»Du hättest es ihm wohl nicht sagen sollen«, flüstert Milla.
»Was?«
»Dass er ein Junge ist.«
»Vielleicht. Aber was ist denn schon dabei? Ist das wirklich so schlimm?«, fragt Aphrodite.
»Er nimmt es ziemlich schwer.«
Die Gutenachtgeschichte fällt aus, weil Morpheus wieder von den versklavten Amazonen anfängt. Er berichtet, dass sie unter dem Kommando eines Mannes stehen, der eine seltsame Frisur und eine barsche Miene hat. Er redet den Amazonen ein, dank seines Verstandes könne er alles Wissen deduzieren. Der Mann erklärt: »Nehmen wir zum Beispiel diesen Fakt: Die Männer sind höhere Wesen. Dann Fakt Nummer zwei: Ich bin ein Mann. Daraus folgt, dass ich das höchste Wesen bin.« Dann erklärt er: »Die Frauen neigen von Natur aus zu Maßlosigkeit und Zügellosigkeit, die Männer dagegen sind rational. Also müssen die Männer über die Frauen herrschen.«
»Das klingt wirklich nach einer lückenlosen Schlussfolgerung«, sagt Aphrodite zu dem Kind.
Wütend schleudert Morpheus sein Fläschchen an die Wand. »Kapierst du nicht, dass er lügt? Er ist ein Schwindler! Warum lassen Frauen sich so leicht betrügen?!«
Aphrodite überlegt eine Weile und antwortet dann: »Na ja, ich weiß es nicht.«
Morpheus erklärt, man müsse etwas tun.
»Ach, mein kleines Schätzchen. Weißt du, was Hamartie ist?« Nach kurzem Überlegen antwortet Morpheus, das wisse er nicht. »Das ist, wenn man etwas Gutes zu tun versucht, aber am Ende etwas Böses dabei herauskommt. Das ist mir in letzter Zeit ziemlich oft passiert.«
»Aha.« Der Junge denkt eine Weile nach. »Und deshalb soll es besser sein, überhaupt nichts zu tun?«
»Ja. Ich würde sagen, dass es besser ist.«
Das Kind sieht die Göttin grimmig an. »Komm heute Nacht mit.«
Im Traum wird Aphrodite von dem bereits erwachsenen Morpheus empfangen. Umwerfend! Er hat ziemlich langes Haar, eine Stupsnase und eine sehr ernste Miene. Aphrodite kichert unwillkürlich und weiß nicht, wie sie sich drehen und wenden soll. Sie streicht sich die Locken aus dem Gesicht.
Morpheus bringt der intensive Blick seiner Patentante in Verlegenheit. Mürrisch fragt er: »Was ist?«
Aphrodite schüttelt lächelnd den Kopf. Es fällt ihr schwer, die Augen von dem ernsthaften, reizenden jungen Mann abzuwenden. Allein für diesen Anblick lohnt sich der Ausflug!
Morpheus führt sie in die siebtunterste Etage der Welt. Aphrodite
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