Die Hure Und Der Moench
einem Betraum. Angelina schaute aus dem schmalen Fenster, während Dorothea das Ordensgewand holte. Direkt vor Angelinas Zelle stand ein Walnussbaum, der seine kahlen Äste in den Himmel streckte.
Angelina übergab ihren Reisebeutel, ihre Kleidung und was sie sonst noch besaß, an Dorothea. Das brauchte sie jetzt alles nicht mehr. Sie streifte die kratzige Tunika und das Skapulier, ein Schulterkleid, über und verstaute die Kukulle, ein Obergewand für die Kirchenbesuche, in einer kleinen Truhe. Lange saß sie allein in ihrer Zelle und hing ihren Gedanken nach, bis eine Glocke zur Vesper läutete.
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Angelina gewöhnte sich schnell an das Klosterleben. Sie stand mit den anderen Nonnen kurz nach Mitternacht auf, um die Matutin zu feiern, vor Sonnenaufgang die Laudes, die Prim gegen sechs Uhr, um neun die Terz, die None, die Vesper am Nachmittag und nach dem Abendessen die Complet. Es wurde früh dunkel und war schon empfindlich kalt, so dass Angelina froh war, wenn sie sich eine halbe Stunde nach dem Abendessen in ihrer Zelle niederlegen konnte. Sie lernte, sog alles begierig auf, studierte alte Schriften, kümmerte sich um das Vieh und sammelte frühmorgens die Eier der Hühner ein. Am wohlsten taten ihr die Gebete, das Singen von Hymnen und Psalmen. Täglich sprach sie ein Bußgebet, wie der Priester es ihr aufgetragen hatte. Hier, in der stillen Gemeinschaft der Schwestern, kam sie endlich zur Ruhe. Oder war es eher eine Ablenkung? Des Nachts wurde Angelina von Träumen heimgesucht, aus denen sie mit einem Alpdruck auf der Brust erwachte.
Immer war sie in einem Raum gefangen, und jedes Mal kam ein Unbekannter in einem schwarzen Kapuzenmantel auf sie zu, um sie zu töten. Feuer und Rauch quollen aus seinen Augen. Sie brauchte jedes Mal lange, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Angelina hatte auch Schwierigkeiten, sich an das Redeverbot zu halten. Gesprochen werden durfte nur zu bestimmten Zeiten und in einem bestimmten Raum. Sie vermisste das Leben und das gute Essen bei Rinaldo und seinen Töchtern, sie vermisste Francesco, ihre Eltern und Geschwister, Sonia und Lucas. Wenn sie ihr in den Sinn kamen, schob sie die Gedanken schnell beiseite, denn dann begann sie erneut unruhig zu werden. Vor dem Einschlafen fühlte sie sich immer von den Wänden der Zelle bedrängt. Manchmal |240| schien der Priester zu ihr zu sprechen, aber wenn sie genauer hinhören wollte, merkte sie, dass es eine Sinnestäuschung war. Mit inbrünstigen Gebeten versuchte Angelina, ihre innere Ruhe zu bewahren.
Eines Tages, es war inzwischen Mitte November, ließ Mutter Elisa sie zu sich rufen. Angelina stellte die Mistgabel, mit der sie gerade den Kuhstall gereinigt hatte, an die Wand und begab sich zu der Äbtissin, die sie in ihrem Gemach erwartete. Mutter Elisa hieß Angelina Platz nehmen und begann eine Unterhaltung.
»Du hast dich gut in unser Klosterleben eingefügt, Angelina«, sagte sie und blickte sie aus ihren gütigen, etwas kurzsichtigen Augen an. »Aber etwas gefällt mir nicht. Die Schwestern haben mir berichtet, dass du nachts schreiend auffährst. Bei Tisch isst du wenig, und ich sehe, dass du an Gewicht abgenommen hast. Du siehst auch sehr blass und verhärmt aus. Was bedrückt dich, dass du so kummervoll einhergehen musst?«
Angelina schluckte. Konnte sie der Äbtissin davon erzählen, was sie wirklich umtrieb?
»Ich will nicht als jemand erscheinen, der sein Leid über das anderer stellt«, sagte sie. »Aber ich glaube doch, dass ich Schwereres durchmachen musste als manch eine meiner Schwestern hier.«
»Was ist es?«, beharrte Mutter Elisa.
Angelina war bereit, sich zu öffnen. Wenn sie sonst niemandem mehr vertrauen konnte, warum nicht dieser gütigen Frau?
»Es war an einem Frühlingsabend dieses Jahres«, begann sie. »Mein Vater hatte ein Fest feiern lassen, auch wenn solche Feste verboten waren.« Würde Mutter Elisa ihr zürnen wegen dieser ›Sünde‹? Aber nein, die Äbtissin nickte ihr ermunternd zu, fortzufahren, und Angelina erzählte stockend, wie Fredi kurz darauf ermordet wurde.
»Liebtest du diesen Mann?«, fragte Suor Elisa.
»Nein«, antwortet Angelina. »Aber es schnitt mir doch in die Seele, dass er auf diese Weise sterben musste. Kurze Zeit später, wir waren vom Land in unser Stadthaus zurückgekehrt, wurde ich von |241| einem Unbekannten mit einem Messer bedroht und er sagte, ich solle von meinen Sünden lassen, sonst müsste ich sterben.«
»Hast du denn eine Sünde
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