Die Hurenkönigin (German Edition)
anders seid als die anderen. Weniger verstockt und von großer Bescheidenheit getragen«, erwiderte Schwester Theodora. Sie erhob sich und streckte Ingrid ihre knochigen Hände entgegen. »Seid willkommen, Jungfer Ingrid, im Kloster des Sankt-Spiritus-Ordens! Möge der Heilige Geist Eure Seele erquicken!«
Ingrid schauderte leicht, als sich die kalten Finger um ihre Hände legten.
»Wie Ihr wisst, habe ich ja meine stille Woche«, erklärte sie der Nonne, »und da dachte ich mir, weil Ihr uns ja schon mehrfach dazu aufgefordert habt, folge ich nun dieser Einladung und bleibe ein paar Tage im Kloster.«
»Daran habt Ihr recht getan, meine Liebe, Ihr werdet diese Entscheidung nicht bereuen. Im Gegenteil, Ihr werdet sehen, wie gut es Euch tut, an einem Ort der Zuflucht zu sein, fernab von allen Versuchungen und Sünden«, erwiderte Schwester Theodora und musterte Ingrid mit Wohlwollen. »Solange Ihr bei uns seid, ist es Euch erlaubt, Euer schandbares Gewand abzulegen und ein schlichtes graues Leinenkleid zu tragen. Ich begleite Euch zur Kleiderkammer und zeige Euch anschließend, wo Ihr untergebracht seid. Bei dieser Gelegenheit kann ich Euch auch durch unser Kloster führen. Ihr werdet hier schon bald heimisch werden, da bin ich mir sicher. Eine Bibliothek haben wir im Übrigen auch … Und wenn wir mit unserem Rundgang fertig sind, stelle ich Euch der Mutter Oberin vor«, sprudelte es aus Schwester Theodora heraus, deren hagere Wangen sich vor Eifer gerötet hatten. Mit freundschaftlicher Geste fasste sie Ingrid am Arm und schob sie eilig aus der Klosterzelle.
Während sie durch die Flure schritten, blieb die Nonne unvermittelt stehen und fragte: »Woher könnt Ihr eigentlich lesen?«
Ingrid war auf diese Frage vorbereitet. »Mein Vater war Lateinlehrer an einer Klosterschule im Westerwald. Er hat mir und meinen Geschwistern das Lesen und Schreiben beigebracht.«
»Ihr seid also aus gutem Hause.« Schwester Theodora lächelte. »Ich habe mir so etwas schon gedacht, bei Euren guten Manieren und der gewählten Art, Euch auszudrücken. Nur frage ich mich, wie konnte eine Frau wie Ihr, mit Anstand und Bildung, derart auf die schiefe Bahn geraten?« Die Nonne schüttelte verständnislos den Kopf.
»Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Ingrid ausweichend und stellte der Schwester kurzerhand eine Gegenfrage: »Ist ›Theodora‹ Euer richtiger Name?«
Die Schwester verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln. »Es ist mein Ordensname. Gefällt er Euch?«
»Ja, ein wunderbarer Name. Er klingt so … vornehm«, entgegnete Ingrid, die es vorzog, unverfängliche Themen zu erörtern, um die Nonne aus der Reserve zu locken, anstatt sich von ihr über ihr Hurenleben aushorchen zu lassen.
Geschmeichelt erwiderte Schwester Theodora: »Der Name geht zurück auf die römische Kaiserin Theodora. Sie war eine fromme, tugendhafte Frau, die ihren Gemahl, Kaiser Justinian, sehr eifrig bei der Ausrottung der Prostitution im Heiligen Römischen Reich unterstützte. Sie ließ über fünfhundert Huren von Kupplern und Mädchenhändlern freikaufen und brachte sie in einem Kloster am Bosporus unter, wo sie ein frommes, beschauliches Leben führen konnten. – Es ist mir eine große Ehre, diesen Namen zu tragen.« Vor Ergriffenheit waren ihr Tränen in die Augen getreten.
»Das kann ich gut verstehen«, entgegnete Ingrid und bemühte sich um einen neutralen Tonfall, obgleich sie innerlich kochte. Als Kennerin der Altertumsgeschichte war es ihr dank römischer und griechischer Geschichtsschreiber, die nicht im Dienste der Heiligen Kurie standen, bekannt, welch grauenvolles Schicksal die Huren tatsächlich ereilt hatte: Die Bewohnerinnen des ältesten Magdalenenhauses der Weltgeschichte hatten nämlich den Tod einem so eintönig frommen Leben vorgezogen und sich ins Meer gestürzt.
Schwester Theodora indessen nahm die Anekdote zum Anlass, Ingrid eine erste kleine Lektion zu erteilen. »So möchte auch das Kloster des Sankt-Spiritus-Ordens den gefallenen Frauen eine Zuflucht bieten, damit sie vor weiteren Versuchungen sicher sind und die begangenen Sünden durch Buße tilgen können«, skandierte sie salbungsvoll, während ihr stechender Blick Ingrid regelrecht durchbohrte.
9
Freitag, 29. Juli 1511 – Samstag, 30. Juli 1511
Die ganze Nacht hindurch hatte die Freifrau in der hauseigenen Kapelle vor dem aufgebahrten Leichnam ihres Mannes gewacht und dabei unentwegt Gebete gesprochen. Am Morgen um die achte Stunde trafen
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