Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Tyrena. »Da es diesmal keinen nostalgischen Kern gibt, können Sie schreiben, was Sie wollen.«
Ich blinzelte. »Sie meinen, diesmal kann ich die leeren Zeilen drinlassen?«
»Natürlich.«
»Und die Philosophie?«
»Bitte.«
»Und die experimentellen Abschnitte?«
»Ja.«
»Und Sie drucken es so, wie ich es schreibe?«
»Unbedingt.«
»Besteht die Möglichkeit, daß es sich verkauft?«
»Ausgeschlossen.«
Meine ›paar Wochen‹, um die Gesänge aufzupolieren, wurden zu zehn Monaten besessener Arbeit. Ich gab die meisten Zimmer meines Hauses auf und behielt nur das Turmzimmer auf Deneb Drei, das Trainingszimmer auf Lusus, die Küche und das Badezimmerfloß auf Mare Infinitus. Ich arbeitete zehn Stunden täglich ununterbrochen, machte Pause, um Übungen zu machen, etwas zu essen und zu schlafen, dann kehrte ich wieder acht Stunden an den Schreibtisch zurück. Es war vergleichbar mit der Zeit vor fünf Jahren, bevor ich mich von meinem Schlag erholt hatte und es manchmal eine Stunde oder einen Tag dauerte, bis mir ein Wort einfiel oder ein Konzept seine Wurzeln in den festen Boden der Sprache grub. Nun war der Vorgang noch langsamer, während ich über das perfekte Wort nachsann, das präzise Versmaß, die verspielteste Metapher und den treffsichersten Vergleich für das flüchtigste Gefühl.
Nach zehn Standardmonaten war ich fertig, wobei man das uralte Sprichwort berücksichtigen sollte, daß kein Buch oder Gedicht je fertig ist, sondern lediglich aufgegeben wird.
»Was meinen Sie?« fragte ich Tyrena, als sie das fertige Exemplar las.
Ihre Augen waren leere Bronzescheiben, wie es diese Woche Mode war, aber das konnte die Tatsache nicht verbergen, daß sie weinte. Sie strich eine Träne weg. »Wunderschön«, sagte sie.
»Ich habe versucht, die Stimmen einiger Altvorderen neu zu entdecken«, sagte ich plötzlich schüchtern.
»Das ist Ihnen auf brillante Weise gelungen.«
»Das Interludium mit Heaven's Gate ist immer noch etwas schroff«, sagte ich.
»Es ist perfekt.«
»Es handelt von Einsamkeit«, sagte ich.
»Es ist Einsamkeit.«
»Glauben Sie, es ist bereit?« fragte ich.
»Es ist perfekt ... ein Meisterwerk.«
»Glauben Sie, es wird sich verkaufen?« fragte ich.
»Auf gar keinen Fall.«
Sie planten eine Startauflage von siebzig Millionen Hardfaxkopien der Gesänge. Transline plazierte Werbespots in der gesamten Datensphäre, drehte HTV-Spots, sendete Softwareanzeigen, holte erfolgreich begeisterte Kommentare von Bestsellerautoren ein und achtete darauf, daß das Werk in der New New York Times Book Section und dem TC 2 -Review besprochen wurde, und gab ganz allgemein ein Vermögen für Werbung aus.
Die Gesänge verkauften im ersten Jahr nach Erscheinen dreiundzwanzigtausend Hardfaxkopien. Bei einem Tantiemenanteil von zehn Prozent vom Ladenpreis von 12 MK hatte ich damit 13 800 MK meines Vorschusses von 2 000 000 MK von Transline verdient. Im zweiten Jahr wurden ganze 638 Hardfaxkopien verkauft; keine Rechte für die Datensphäre, keine Holieoptionen und keine Werbetouren.
Was die Gesänge an Verkaufszahlen nicht brachten, machten sie an negativen Besprechungen wett: »Nicht zu enträtseln ... archaisch ... irrelevant für alle derzeitigen Belange«, stand in der Times Book Section. »M. Silenus hat den letztmöglichen Akt der Nichtkommunikation bewerkstelligt«, schrieb Urban Kapry im TC 2 -Review, »indem er sich in eine Orgie prätentiöser Verwirrung gestürzt hat.« Marmon Hamlit versetzte dem Buch den endgültigen Todesstoß in ›Heute im All-Netz!‹: »Oh, der Gedichtband von diesem – Wieheißterdochgleich? – konnte ich nicht lesen. Habe es nicht mal versucht.«
Tyrena Wingreen-Feif schien nicht bekümmert zu sein. Zwei Wochen nach den ersten Besprechungen und Hardfaxverkaufszahlen und einen Tag nach Beendigung meines dreizehntägigen Zechgelages farcastete ich in ihr Büro und warf mich in den schwarzen Schwebschaumsessel, der mitten im Zimmer kauerte wie ein Panther aus Samt. Es herrschte eines der legendären Gewitter von Tau Ceti Center, jupitergroße Blitzschläge zerrissen die blutrote Atmosphäre vor dem unsichtbaren Sperrfeld.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Tyrena. Zur dieswöchigen Mode gehörte eine Frisur, bei der Haarstacheln einen halben Meter über die Stirn abstanden, sowie ein Körperfeldpolarisator, der mit wabernden Farben die Nacktheit darunter bedeckte – und offenbarte. »Die erste Auflage betrug nur sechzigtausend
Weitere Kostenlose Bücher