Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Schädelsteckers, in den sie es gesteckt hat. Der Knochen auf beiden Seiten ist sehr weiß. Auf dem Tisch neben ihrer linken Hand liegt die leere Flashbackspritze.
Die Diener kommen und ziehen mich weg. Mutter blinzelt nicht einmal. Ich werde schreiend aus dem Zimmer gezogen.
Ich wache schreiend auf.
Vielleicht war es meine Weigerung, Flashback noch einmal zu nehmen, die Helendas Abreise beschleunigt hat, aber das bezweifle ich. Ich war ein Spielzeug für sie – ein Primitiver, der sie mit seiner Unschuld in einem Leben amüsierte, das sie seit vielen Jahrzehnten als gegeben nahm. Was auch immer, aufgrund meiner Weigerung, Flashback zu nehmen, verbrachte ich viele Tage ohne sie; die Zeit, die im Replay verbracht wird, ist Echtzeit, und viele Flashbackfixer sterben und haben mehr Tage ihres Lebens unter der Droge als bei Bewußtsein verbracht.
Anfangs unterhielt ich mich mit den Implantaten und Technospielzeugen, die mir als Mitglied einer Familie der Alten Erde versagt geblieben waren. Die Datensphäre war in diesem ersten Jahr ein Quell des Entzückens – ich rief fast ständig Informationen ab und lebte in einer Ekstase voller Interfaces. Ich war so süchtig nach Daten wie der Karibuschwarm nach Stims und Drogen. Ich konnte mir vorstellen, wie sich Don Balthasar in seinem geschmolzenen Grab herumdrehte, als ich Langzeiterinnerung zugunsten der vergänglichen Befriedigung von Transplantallwissenheit aufgab. Erst später spürte ich den Verlust – Fitzgeralds Odyssee, Wus Letzter Marsch und Dutzende weitere Epen, die meinen Schlag überlebt hatten, wurden nun verweht wie Wolkenbruchstücke bei Sturm. Viel später, als ich die Implantate hatte entfernen lassen, lernte ich sie mühsam wieder.
Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben wurde ich politisch. Ich verbrachte Tage und Nächte damit, den Senat über Farcasterkabel zu verfolgen, oder war ins All-Wesen eingeklinkt. Jemand hat einmal geschätzt, daß das All-Wesen sich tagtäglich mit hundert aktiven Angelegenheiten der Hegemonielegisiative beschäftigt, und in den Tagen, die ich ins Sensorium eingebettet verbrachte, habe ich mir keines davon entgehen lassen. Meine Stimme und mein Name waren in den Diskussionskanälen bestens bekannt. Keine Angelegenheit war zu geringfügig, kein Thema zu simpel oder komplex für meinen Input. Die schlichte Tatsache, daß ich alle paar Minuten über etwas abstimmte, gab mir das falsche Gefühl, etwas erreicht zu haben. Ich gab meine politische Besessenheit erst auf, als mir klar wurde, daß regelmäßiger Zugang zum All-Wesen bedeutete, entweder ständig zu Hause zu bleiben oder zu einem wandelnden Zombie zu werden. Jemand, der konstant über seine Implantate eingeklinkt ist, gibt in der Öffentlichkeit ein jämmerliches Bild ab, und ich brauchte Helendas Hinweis nicht, um einzusehen, daß ich mich, wenn ich zu Hause blieb, in einen Schwamm des All-Wesens verwandeln würde wie so viele Millionen andere Abhängige im Netz. Daher gab ich die Politik auf. Aber bis dahin hatte ich eine neue Leidenschaft gefunden: Religion.
Ich schloß mich Religionen an. Verdammt, ich half mit, Religionen zu gründen. Die Kirche der Zen-Gnostiker expandierte exponentiell, und ich wurde ein wahrer Gläubiger, trat in HTV-Talkshows auf und suchte meine Stätten der Macht mit der Hingabe eines Prä-Hegira-Moslems, der nach Mekka pilgert. Außerdem liebte ich das Farcasten. Meine Tantiemen für Die sterbende Erde beliefen sich auf fast hundert Millionen Mark, und Helenda hatte sie gut angelegt, aber jemand hat einmal ausgerechnet, daß ein Farcasterhaus wie meines allein fünfzigtausend Mark täglich kostet, nur damit es im Netz bleibt, und ich beschränkte mein Farcasten nicht auf die sechsunddreißig Welten meines Hauses. Transline Publishing hatten mir eine goldene Universalkarte verschafft, von der ich regen Gebrauch machte – ich farcastete zu den entlegensten Winkeln des Netzes, verbrachte Wochen dort in Luxusunterkünften und mietete EMVs, um meine Stätten der Macht in den fernsten Gegenden von Hinterwelten zu finden.
Ich fand keine. Ich gab die Zen-Gnostik etwa zu der Zeit auf, als Helenda sich von mir scheiden ließ. Da stapelten sich die Rechnungen schon, und ich mußte den größten Teil der Wertpapiere und langfristigen Anlagen verkaufen, die mir geblieben waren, nachdem Helenda ihren Anteil genommen hatte. (Ich war nicht nur verliebt und naiv gewesen, als ihre Anwälte den Ehevertrag aufgesetzt hatten ... ich war regelrecht
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