Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
vorgebeugt hin. »Einen Mord? Sind Sie sicher? Was ist mit den Bullen?«
»Sie sind nicht eingeschaltet.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich mit dem niedergeschlagenen Gefühl, daß ich es nicht mit einem Klienten, sondern mit einem Irren zu tun hatte. »Es ist ein Verbrechen, einen Mord vor den Behörden geheimzuhalten.« Dabei dachte ich: Bist du der Mörder, Johnny?
Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Fall.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, M. Lamia, daß ein Mord begangen wurde, aber die Polizei – die hiesige und die der Hegemonie – nichts davon weiß und er auch nicht in ihre Jurisdiktion fällt.«
»Nicht möglich«, sagte ich wieder. Draußen regneten Funken eines Schweißgeräts zusammen mit dem rostigen Tropfwasser in den Kanal. »Erklären Sie!«
»Ein Mord ist außerhalb des Netzes geschehen. Außerhalb des Protektorats. Es gibt keine lokalen Behörden.«
Das schien logisch. Irgendwie. Aber selbst wenn es um mein Leben gegangen wäre, ich hatte keinen Schimmer, wovon er sprach. Selbst auf den Siedlungen im Outback und den Kolonialwelten gibt es Bullen. An Bord eines Raumschiffs? Nn-nnn. Dort würde er unter die Jurisdiktion der Interstellaren Transitbehörde fallen.
»Ich verstehe«, sagte ich. Es war ein paar Wochen her, seit ich meinen letzten Fall gehabt hatte. »Na gut, erzählen Sie mir die Einzelheiten.«
»Und die Unterhaltung ist vertraulich, auch wenn Sie den Fall nicht übernehmen?«
»Unbedingt.«
»Und wenn Sie den Fall übernehmen, berichten Sie nur mir?«
»Selbstverständlich.«
Mein potentieller Klient zögerte und strich mit den Fingern über das Kinn. Auch seine Hände waren wohlgeformt. »Nun gut«, sagte er schließlich.
»Fangen Sie ganz vorne an«, sagte ich. »Wer wurde ermordet?«
Johnny richtete sich kerzengerade auf, ein aufmerksamer Schuljunge. An seiner Ehrlichkeit konnte kein Zweifel bestehen. Er sagte: »Ich.«
Ich brauchte zehn Minuten, um ihm die ganze Geschichte aus der Nase zu ziehen. Als er fertig war, dachte ich nicht mehr, daß er verrückt war. Ich war es. Oder wäre es, wenn ich den Job übernähme.
Johnny – sein wirklicher Name bestand aus einem Code von Ziffern, Buchstaben und Symbolstreifen, der länger als mein ganzer Arm war – war ein Cybrid.
Ich hatte von Cybrids gehört. Wer nicht? Einmal hatte ich meinem ersten Mann vorgeworfen, er wäre einer. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, einmal in einem Zimmer mit einem zu sitzen. Oder ihn so verdammt attraktiv zu finden.
Johnny war eine KI. Sein Bewußtsein oder Ego oder wie man es immer nennen will, schwebte irgendwo in der Megadatensphäre-Dateiebene von TechnoCore. Wie alle, abgesehen vielleicht vom derzeitigen Senatspräsidenten oder den Müllkutschern der KIs, hatte ich keine Ahnung, wo sich der TechnoCore befand. Die KIs hatten sich vor mehr als drei Jahrhunderten, also lange vor meiner Zeit, friedlich von der Menschheit unabhängig gemacht und dienten der Hegemonie weiter als Verbündete, indem sie das All-Wesen berieten, die Datensphären überwachten und ihre Gabe der Vorhersehung gelegentlich einsetzten, um uns zu helfen, folgenschwere Fehler oder Naturkatastrophen zu vermeiden, aber TechnoCore ging ansonsten seinen unerklärlichen und eindeutig nichtmenschlichen Angelegenheiten in aller Stille nach.
Schien mir fair zu sein.
Normalerweise wickeln die KIs ihre Geschäfte mit Menschen und den Maschinen der Menschen über die Datensphäre ab. Sie können ein interaktives Holo erzeugen, wenn es erforderlich ist – ich weiß noch, bei der Eingliederung von Maui-Covenant sahen die Botschafter bei der Vertragsunterzeichnung alle verdächtig wie der alte Holo-Star Tyrone Bathwaite aus.
Cybrids sind wieder etwas ganz anderes. Sie sind aus menschlichem genetischem Material geschaffen und weitaus menschenähnlicher in Aussehen und äußerlichem Verhalten, als es Androiden normalerweise gestattet ist. Vereinbarungen zwischen TechnoCore und der Hegemonie dulden die Existenz von nur ganz wenigen Cybrids für Spezialzwecke.
Ich sah Johnny an. Aus der Sicht einer KI waren der wunderschöne Körper und die faszinierende Persönlichkeit, die mir gegenüber am Schreibtisch saßen, lediglich ein weiterer Auswuchs, etwas Ferngesteuertes, komplexer, aber deshalb nicht wichtiger als jeder beliebige der zehntausend Sensoren, Manipulatoren, autonomen Einheiten oder Ferngesteuerten, die eine KI bei der täglichen Arbeit einsetzen kann. ›Johnny‹ zu entsorgen
Weitere Kostenlose Bücher