Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Palästinenser im Weltennetz und darüber hinaus trug die Erinnerung an ein Jahrhundert der Kämpfe in sich, gefolgt von einem Monat nationalen Triumphs, bevor die Nukleare Jihad von 2038 alles auslöschte. Dann kam die zweite Diaspora, die fünf Jahrhunderte andauerte und in Sackgassen toter Welten wie dem Mars führte, und zuletzt wurde ihr Traum zusammen mit der Alten Erde zu Grabe getragen. Kassad zog, wie alle anderen Jungs der Zwischenlager in Süd-Tharsis, entweder mit Banden herum oder sah sich der Möglichkeit ausgesetzt, jedem selbsternannten Raubtier im Lager zur Beute zu werden. Er entschied sich für die Banden. Als Kassad sechzehn Standardjahre alt war, hatte er schon einen anderen Jugendlichen getötet.
Wenn der Mars überhaupt im Weltennetz bekannt war, dann für Safaris im Mariner Valley, Schrauders Zen-Massiv in Hellas Basin und die Militärakademie Olympus. Kassad mußte nicht ins Mariner Valley reisen, um zu erfahren, wie es war, zu jagen oder gejagt zu werden; er interessierte sich nicht für Zen-Gnostik und empfand als Teenager bloß Verachtung für alle uniformierten Kadetten, die aus jedem Teil des Netzes kamen, um die Ausbildung für FORCE zu absolvieren. Mit seinen Altersgenossen zusammen verhöhnte er den neuen Bushido als Codex für Feiglinge, aber eine Ader uralten Ehrgefühls in der Seele des jungen Kassad fühlte sich insgeheim zur Vorstellung von einer Samuraikaste hingezogen, deren Leben und Arbeit um Pflicht, Selbstachtung und den unerschütterlichen Wert des eigenen Ehrenwortes kreiste.
Als Kassad achtzehn wurde, bot ihm ein Hoher Richter der Provinz Tharsis die Wahl zwischen einem marsianischen Jahr im polaren Arbeitslager oder einer Meldung zur John Carter Brigade, die gerade im Entstehen war, um FORCE zu helfen, die Glennon-Height-Aufstände in den Klasse Drei Kolonien niederzuschlagen. Kassad meldete sich und stellte fest, daß ihm Disziplin und Ordnung des militärischen Lebens zusagten, auch wenn die John Carter Brigade ausschließlich Besatzungsdienst im Netz leistete und aufgelöst wurde, als Glennon-Heights geklonter Enkel auf Renaissance starb. Zwei Tage nach seinem neunzehnten Geburtstag meldete sich Kassad zur FORCE:Bodentruppe und wurde abgelehnt. Er begann eine neun Tage dauernde Zechtour, wachte in einem der tiefen Wabentunnels von Lusus auf und mußte feststellen, daß ihm sein militärisches Komlogimplantat gestohlen worden war – offensichtlich von jemandem, der einen Fernkurs in Chirurgie mitgemacht hatte –, daß seine Universalkarte und die Farcastererlaubnis ungültig gemacht worden waren und sein Kopf neue Grenzen des Schmerzes erforschte.
Kassad arbeitete ein Standardjahr auf Lusus, sparte sechstausend Mark und überwand seine marsianische Zierlichkeit durch körperliche Arbeit in 1.3-ES-Schwerkraft. Als er seine Ersparnisse darauf verwendete, sich an Bord eines uralten Sonnensegelfrachters mit ausgemustertem Hawking-Antrieb nach Maui-Covenant einzuschiffen, war Kassad nach Netz-Standards immer noch groß und schlank, aber die vorhandenen Muskeln waren nach jedermanns Standard in Höchstform.
Er traf drei Tage vor Ausbruch des teuflischen und unpopulären Inselkriegs auf Maui-Covenant ein, und schließlich hatte es der FORCE:Kombinat-Befehlshaber von Firstsite so satt, den jungen Kassad immer in seinem Vorzimmer warten zu sehen, daß er dem Jungen gestattete, sich im 23sten Nachschubregiment als stellvertretender Hydroplanfahrer einzuschreiben. Elf Standardmonate später hatte Feldwebel Fedmahn Kassad vom Zwölften Mobilen Infanteriebataillon zwei Tapferkeitsmedaillen, den Senatsorden für Verdienste im Feldzug im Äquatorialarchipel und zwei Purple Hearts bekommen. Darüber hinaus wurde er für die FORCE-Militärakademie vorgeschlagen und mit dem nächsten Konvoi Richtung Netz geschickt.
Kassad träumte oft von ihr. Er hatte nie ihren Namen erfahren, sie hatte nie ein Wort gesagt, aber er hätte ihre Berührung und ihren Geruch in völliger Dunkelheit unter tausend anderen herausfinden können. Er nannte sie ›Mystery‹ – Geheimnis.
Wenn die jüngeren Offiziere zu Huren gingen oder sich Freundinnen aus der Eingeborenenbevölkerung suchten, blieb Kassad im Stützpunkt oder legte lange Fußmärsche durch fremde Städte zurück. Seine Leidenschaft für Mystery hielt er geheim, weil er genau wußte, wie sie sich in einem Psychreport ausmachen würde. Manchmal wurde Kassad beim Biwak unter vielen Monden oder in der gebärmutterähnlichen
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