Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
zurückgelassen hatte, war nicht mehr an ihrem Platz in der Ecke. Lamia zuckte die Achseln und ging hinaus.
Das Shrike wartete. Es stand unmittelbar vor der Tür. Es war viel größer, als sie erwartet hatte und ragte hoch über ihr auf.
Lamia ging hinaus, wich zurück und unterdrückte den Drang, vor dem Ding zu schreien. Die erhobene Pistole in ihrer Hand war winzig und nutzlos. Die Taschenlampe klapperte auf den Steinboden.
Das Ding legte den Kopf schief und sah sie an. Rotes Licht pulsierte irgendwohinter seinen Facettenaugen. In den Flächen seines Körpers spiegelte sich das Licht von oben.
»Du Hurensohn«, sagte Lamia mit gelassener Stimme. »Wo sind sie? Was hast du mit Sol und dem Baby gemacht? Wo sind die anderen?«
Das Wesen neigte den Kopf in die andere Richtung. Sein Gesicht war so fremdartig, daß Lamia seinen Ausdruck nicht deuten konnte. Die Körpersprache drückte nur Bedrohung aus. Stählerne Finger wurden klickend gespreizt wie ausklappbare Skalpells.
Lamia schoß ihm viermal ins Gesicht; die schweren 16-mm-Geschosse prallten ab und verschwanden heulend in der Nacht.
»Ich bin nicht zum Sterben hierher gekommen, du Eisenarsch«, sagte Lamia, zielte und feuerte noch ein dutzendmal. Jede Kugel traf das Ziel.
Funken flogen. Das Shrike hob den Kopf, als würde es einem fernen Geräusch lauschen.
Es war fort.
Lamia sperrte den Mund auf, wirbelte herum. Nichts. Der Boden des Tals glomm im Sternenlicht, als der Nachthimmel sich beruhigte. Selbst der Wind hatte aufgehört.
Brawne Lamia stolperte zu den Rucksäcken, setzte sich auf den größten und versuchte, ihren Herzschlag wieder auf normale Geschwindigkeit zu bekommen. Sie stellte interessiert fest, daß sie keine Angst gehabt hatte ... wirklich nicht ... aber das Adrenalin in ihrem Blutkreislauf ließ sich nicht leugnen.
Sie behielt die Pistole, in deren Magazin sich noch ein halbes Dutzend Kugeln befanden und deren Feuerkraft noch stark war, in einer Hand, griff nach einer Wasserflasche und gönnte sich einen großen Schluck.
Das Shrike erschien an ihrer Seite. Sein Eintreffen geschah von einem Augenblick zum anderen und völlig lautlos.
Lamia ließ die Flasche fallen und versuchte, die Pistole hochzureißen, während sie sich nach einer Seite krümmte.
Sie hätte sich ebensogut in Zeitlupe bewegen können. Das Shrike streckte die rechte Hand aus, auf stricknadelgroßen Nägeln spiegelte sich das Licht, dann glitt eine dieser Spitzen hinter ihr Ohr, fand den Schädel und bohrte sich ohne Reibung in ihren Kopf, völlig schmerzlos – abgesehen vom eisigkalten Gefühl des Eindringens.
23
Oberst Fedmahn Kassad war durch das Portal getreten und hatte mit etwas Fremdem gerechnet; statt dessen fand er den choreographierten Wahnsinn des Krieges.
Moneta war vor ihm gegangen. Das Shrike hatte ihm die Klingen der Finger in den Oberarm gebohrt und ihn begleitet. Als Kassad seinen Schritt durch den kribbelnden Energievorhang beendet hatte, wartete Moneta auf ihn, und das Shrike war fort.
Kassad wußte augenblicklich, wo sie sich befanden. Der Ausblick war der von dem flachen Berg, wo der Traurige König Billy vor fast zweihundert Jahren sein Antlitz hatte modellieren lassen. Das flache Gipfelplateau war unberührt, abgesehen von den Trümmern einer Verteidigungsbatterie gegen Raketenangriffe aus dem All, die noch schwelten. Aus dem zu Glas geschmolzenen Granit und dem blubbernden glühenden Metall schloß Kassad, daß die Batterie aus dem Orbit ausgeschaltet worden war.
Moneta ging zum Rand der Felsklippe fünfzig Meter über der gewaltigen Stirn des Traurigen Königs Billy, und Kassad gesellte sich zu ihr. Der Ausblick über das Flußtal, die Stadt und die Höhen des Raumhafens zehn Kilometer im Westen sagte alles.
Hyperions Hauptstadt stand in Flammen. Jacktown, die Altstadt, bestand aus einem Miniaturfeuersturm, Hunderte kleinerer Feuer leuchteten als Pünktchen in den Vororten oder säumten die Straße zum Raumhafen wie eine ordentliche Schneisenbefeuerung. Selbst der Hoolie brannte, da ein Ölfeuer sich unter alten Docks und Lagerhallen ausbreitete. Kassad sah den Turm einer uralten Kirche über die Flammen emporragen. Er suchte nach Cicero's, aber die Bar wurde von Rauch und Flammen flußaufwärts verborgen.
Berge und Täler wuselten vor Bewegungen, als hätte ein Riesenstiefel einen Ameisenhaufen auseinandergetreten. Kassad konnte die Straßen erkennen, auf denen sich ein Strom von Menschen staute, die sich langsamer
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