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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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aber vor einem Tempelritter? Und außerdem haben Sie die Treppe zum Labyrinth in der tiefsten Kammer des Jadegrabs gesehen.«
    Hoyt schaut auf und blinzelt unter den Nadelstichen feinen Sands. »Sie glauben, er ist dort? Im Labyrinth?«
    Silenus lacht und hebt die Arme. Der Seidenstoff seines weiten Hemdes wogt und bauscht sich. »Woher soll ich das wissen, Padre? Ich weiß nur, Het Masteen könnte im Augenblick da draußen sein, uns beobachten und darauf warten, daß er sein Gepäck zurückfordern kann.« Der Dichter nickt zu dem Möbiuskubus in der Mitte ihres kleinen Stapels Ausrüstung. »Oder er könnte schon tot sein. Oder Schlimmeres.«
    »Schlimmeres?« fragt Hoyt. Das Gesicht des Priesters ist in den vergangenen Stunden gealtert. Seine Augen sind eingesunkene Spiegel der Qual, sein Lächeln ein Starrkrampf.
    Martin Silenus kommt zum erlöschenden Feuer zurück. »Schlimmeres«, sagt er. »Er könnte am Baum des Shrike zappeln. Wo wir in ein paar Stunden auch ...«
    Brawne Lamia steht unvermittelt auf und packt den Dichter am Hemdkragen. Sie hebt ihn vom Boden hoch, schüttelt ihn und läßt ihn wieder herunter, bis sein Gesicht auf ihrer Höhe ist. »Noch einmal«, sagt sie leise, »und ich werde Ihnen auf jede erdenkliche Weise Schmerzen zufügen. Ich werde Sie nicht töten, aber Sie werden sich wünschen, ich hätte es getan.«
    Der Dichter schenkt ihr ein Satyrlächeln. Lamia läßt ihn fallen und dreht ihm den Rücken zu. Kassad sagt: »Wir sind müde. Alles in die Kojen. Ich halte Wache.«
    Meine Träume von Lamia sind mit Lamias Träumen vermischt. Es ist nicht unangenehm, die Träume einer Frau, die Gedanken einer Frau zu teilen, und seien es die einer Frau, die durch einen Abgrund von Zeit und Kultur von mir getrennt ist, der schwerer wiegt, als es der Geschlechterunterschied je könnte. Auf eine seltsame und merkwürdig spiegelähnliche Weise träumte sie von Johnny, ihrem toten Liebhaber, seiner zu kleinen Nase und dem zu störrischen Kiefer, dem zu langen Haar, das sich über dem Kragen lockte, und seinen Augen – jenen zu ausdrucksvollen, zu vielsagenden Augen, die zu sehr ein Gesicht belebten, welches, abgesehen von diesen Augen, jedem x-beliebigen Bauernburschen gehören könnte, der im Umkreis einer Tagesreise von London geboren wurde.
    Das Gesicht, von dem sie träumte, war meines. Die Stimme, die sie in ihrem Traum hörte, war meine. Aber der Liebesakt, von dem sie träumte – eine Erinnerung –, mit dem hatte ich nichts zu tun. Ich versuchte, ihrem Traum zu entkommen, und sei es nur, um meinen eigenen zu finden. Wenn ich schon ein Voyeur sein sollte, dann lieber in dem Durcheinander vorfabrizierter Erinnerungen, die als meine eigenen Träume dienten.
    Aber mir wurde nicht gestattet, meine eigenen Träume zu träumen. Noch nicht. Ich vermute, ich wurde nur zu dem Zweck geboren – und vom Totenbett erneut geboren –, diese Träume meines toten und fernen Zwillingsbruders zu träumen.
    Ich fügte mich, gab mein Bemühen, zu erwachen, auf und träumte.
     
    Brawne Lamia erwacht ruckartig, unvermittelt und wird von einem Geräusch oder einer Bewegung aus ihrem angenehmen Traum gerissen. Einen Moment lang ist sie desorientiert; es ist dunkel und kein Laut zu hören – kein mechanischer –, der lauter wäre als die meisten Geräusche im Stock von Lusus, wo sie lebt; sie ist trunken vor Müdigkeit, weiß aber, daß sie nach sehr kurzem Schlaf erwacht ist; sie ist allein in einem engen, umhüllten Raum, der einem groß geratenen Leichensack gleicht.
    Obwohl auf einer Welt groß geworden, wo abgeschlossene Räume Sicherheit vor giftiger Luft, Winden und wilden Tieren bedeuten, wo viele Menschen an Agoraphobie leiden, wenn sie eine der wenigen offenen Gegenden besuchen, aber die wenigsten die Bedeutung von Klaustrophobie kennen, reagiert Brawne Lamia dennoch als eine Klaustrophobe: Sie schlägt um sich, stößt Schlafsack und Zeltklappe beim panischen Bemühen beiseite, dem engen Kokon aus Fiberplastik zu entkommen, kriecht, zieht sich auf Händen und Unterarmen und Ellbogen vorwärts, bis sie Sand unter den Händen spürt und den Himmel über sich sieht.
    Eigentlich nicht den Himmel, wird ihr plötzlich klar, als sie plötzlich sieht und sich erinnert, wo sie ist. Sand. Ein wehender, tobender, wirbelnder Sandsturm von Teilchen, die ihr Gesicht wie Nadelstiche pieksen. Das Lagerfeuer ist erloschen und von Sand zugeweht. Sand hat sich an den windwärts gelegenen Seiten aller drei Zelte

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