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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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einnahm – sei es als bloße Manifestation des Unterbewußtseins in all seinen revanchistischen Bedürfnissen oder als bewußterer Versuch einer philosophischen und ethischen Evolution –, die Menschheit durfte nicht einfach mehr einwilligen, Opfer im Namen Gottes darzubringen. Opfer und die Bereitwilligkeit zu opfern, hatten die Menschheitsgeschichte mit Blut geschrieben.
    Und doch hatte Sol Weintraub vor Stunden, vor Ewigkeiten, sein einziges Kind einer Kreatur des Todes übergeben.
    Jahrelang hatte die Stimme in seinen Träumen ihm befohlen, genau das zu tun. Jahrelang hatte sich Sol geweigert. Er hatte sich letztendlich darauf eingelassen, aber erst, als die Zeit dahin war, als jede Hoffnung dahin war, erst als ihm klar geworden war, die Stimme in seinen und Sarais Träumen war all die Jahre über nicht die Stimme Gottes gewesen, und auch nicht die einer dunklen Macht, die mit dem Shrike im Bunde stand.
    Es war die Stimme ihrer Tochter gewesen.
    Mit plötzlicher Klarheit, die über seine unmittelbaren Schmerzen und die Trauer hinausging, begriff Sol Weintraub auf einmal, warum Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern, als der Herr es ihm befohlen hatte.
    Es war kein Gehorsam.
    Es war nicht einmal so, daß er die Liebe zu Gott höher bewertete als die Liebe zu seinem Sohn.
    Abraham stellte Gott auf die Probe.
    Indem er das Opfer im letzten Augenblick ablehnte, indem er dem Messer Einhalt gebot, hatte sich Gott – in Abrahams Augen und im Herzen seines Sprößlings – das Recht erworben, der Gott Abrahams zu werden.
    Sol erschauerte, als er darüber nachdachte, daß kein Posieren von Seiten Abrahams, kein Vorschützen seiner Bereitschaft, den Jungen zu opfern, dazu hätte dienen können, dieses Band zwischen höherer Macht und Menschheit zu schmieden. Abraham hatte im Innersten seines Herzens wissen müssen, daß er den Jungen töten würde. Die Gottheit, welche Form sie auch damals angenommen haben mochte, mußte überzeugt von Abrahams Entschlossenheit sein, mußte die Traurigkeit und Entschlossenheit, zu vernichten, was Abraham das Teuerste im Universum war, spüren.
    Abraham mußte kein Opfer bringen, erfuhr aber ein für allemal, daß sein Gott ein Gott war, dem man vertrauen und gehorchen konnte. Kein anderer Test hätte dazu ausgereicht.
    Aber warum, fragte sich Sol, als er sich an die Steinstufen der Sphinx klammerte, die sich auf dem stürmischen Meer der Zeit zu heben und senken schien, warum wurde dieser Test wiederholt? Welche schrecklichen neuen Offenbarungen warteten auf die Menschheit?
    Da begriff Sol – aufgrund des wenigen, was Brawne ihm erzählt hatte, aufgrund der während der Pilgerfahrt erzählten Geschichten, aufgrund persönlicher Offenbarungen in den vergangenen paar Wochen –, daß die Bemühungen der Höchsten Intelligenz der Maschinen, was immer das auch sein mochte, die geflohene Empfindungs-Komponente der menschlichen Gottheit aus ihrem Versteck zu locken, vergeblich sein würden. Sol sah den Baum der Dornen nicht mehr auf der Felswand, die stählernen Zweige und leidenden Massen, aber er sah jetzt zweifelsfrei, daß das Ding ebenso eine organische Maschine war wie das Shrike – ein Instrument, Qual durch das Universum zu senden, damit der menschliche Gott-Teil gezwungen würde zu reagieren, sich zu zeigen.
    Wenn Gott eine Evolution durchmachte, und Sol war überzeugt, das mußte auch auf Gott zutreffen, dann ging diese Evolution in Richtung Empfindung – zu einem gemeinsamen Leiden, nicht zu Macht und Herrschaft. Aber der obszöne Baum, den die Pilger gesehen hatten – dessen Opfer der unglückliche Martin Silenus geworden war –, war nicht die richtige Methode, diese verschwundene Macht zu beschwören.
    Sol wurde klar, der Maschinengott, in welcher Form auch immer, war einsichtig genug, zu begreifen, daß Empfindung eine Reaktion auf das Leid anderer war, aber dieselbe HI war zu dumm, um zu verstehen, daß Empfindung – in menschlichen Begriffen und in Begriffen der menschlichen HI – weit mehr als das war. Empfindung und Liebe waren untrennbar und unerklärlich. Die HI der Maschinen konnte sie nie verstehen – nicht einmal soweit, sie als Lockmittel für den Teil der menschlichen HI zu benützen, die in der fernen Zukunft der Kriegführung überdrüssig geworden war.
    Liebe, das banalste aller Dinge, die klischeehafteste aller religiösen Motivationen, besaß – wie Sol jetzt wußte – mehr Macht als die starke Wechselwirkungskraft oder die schwache

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