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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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über ein Nest von einem halben Dutzend Nachkommen; die Haut der Kinder ist schon im Alter von fünf Jahren grindig, ihre Augen tränen von der beißenden Atmosphäre, die sie umbringen wird, bevor sie vierzig sind; ihr Lächeln ist kariös, in den fettigen Haaren wimmelt es von Läusen und den Blutsäcken von Draculamilben. Stolze Eltern strahlen. Zwanzig Millionen dieser armen Teufel drängen sich in Elendsvierteln auf einer Insel, die kleiner als der Westrasen auf dem Anwesen meiner Familie auf der Alten Erde ist; alle kämpfen darum, die einzige atembare Atmosphäre auf einer Welt einzuatmen, wo ein Sprichwort lautet: Atme und stirb, drängen sich immer dichter zum Zentrum des Sechzig-Meilen-Radius lebenserhaltender Atmosphäre, die die Atmosphäregewinnungsstation erzeugen konnte, bevor sie den Dienst aufgab.
    Heaven’s Gate: mein neues Zuhause.
    Mutter hatte nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass sämtliche Konten der Alten Erde eingefroren und dann der
wachsenden Wirtschaft des Weltennetzes zugeführt werden würden. Und sie hatte auch nicht daran gedacht, dass der Grund, warum die Menschen auf den Hawking-Antrieb gewartet haben, um den Spiralarm der Milchstraße zu erkunden, der war, dass in langem kryonischem Tiefschlaf – im Gegensatz zu wenigen Wochen oder Monaten in der Fuge – die Chancen von bleibenden Gehirnschäden eins zu sechs sind. Ich hatte Glück. Als ich auf Heaven’s Gate aufgetaut und eingeteilt wurde, Säure kanäle außerhalb der Grenze zu graben, hatte ich nur einen zerebralen Unfall gehabt: einen Hirnschlag. Körperlich war ich imstande, nach wenigen lokalen Wochen in den Schlammgruben zu arbeiten. Geistig blieb viel zu wünschen übrig.
    Die linke Seite meines Gehirns war abgeschaltet worden, wie die schadhafte Sektion eines Spinschiffs abgeschottet wurde: Luftdichte Türen ließen die ausgefallenen Teile zum Vakuum hin offen. Ich konnte noch denken; die Herrschaft über die rechte Körperseite hatte ich bald wieder. Nur die Sprachzentren waren ohne Weiteres nicht mehr wiederherzustellen. Der wunderbare organische Computer in meinem Schädel hatte den Sprachgehalt einfach wie ein schadhaftes Programm gelöscht. Die rechte Hemisphäre war nicht ganz ohne Sprache  – aber lediglich die emotional aufgeladensten Kommunikationseinheiten waren in dieser Affekthemisphäre beheimatet: Mein Vokabular bestand aus neun Worten. Das, erfuhr ich später, war außergewöhnlich; viele Opfer von Hirnschlägen beherrschen nur noch zwei oder drei. Fürs Protokoll nachfolgend mein gesamtes Vokabular aussprechbarer Worte: Fick, Scheiße, Pisse, Fotze, Gottverdammt, Wichser, Arschloch, Pipi und Kaka.
    Eine rasche Analyse zeigt hier einige Unzulänglichkeiten. Mir standen acht Substantive zur Verfügung, die sechs Dinge bezeichneten. Mein neues sprachliches Universum bestand
aus einem einsilbigen Substantiv und zwei Ausdrücken der Kindersprache. Meine Möglichkeiten, mich auszudrücken, beschränkten sich auf zwei Anspielungen auf die menschliche Anatomie, eine Bitte um göttliche Strafe, eine Standardbeschreibung von oder eine Bitte um Koitus und eine Abart sexueller Tätigkeit, die ich aufgrund von Nervenstörungen an mir selbst nicht ausführen konnte.
    Alles in allem genug.
    Ich will nicht sagen, dass ich mich meiner drei Jahre in den Schlammgruben und verschleimten Elendsvierteln von Heaven’s Gate mit Freude erinnere, aber es stimmt, dass diese Jahre mindestens ebenso prägend wie – ja, wahrscheinlich prägender als meine vorangegangenen zwei Jahrzehnte auf der Alten Erde waren.
    Ich fand bald heraus, dass mir mein Vokabular bei meinen intimsten Bekannten – Schlammsack, dem Baggerführer, Unk, dem Hinterhofschläger, dem ich mein Schutzgeld bezahlte, Kiti, der verlausten Kindernutte, die ich vögelte, wenn ich es mir leisten konnte – durchaus gute Dienste leistete. »Scheiße-Fick«, grunzte ich und gestikulierte. »Arschloch Fotze Pipi Fick.«
    »Aha«, grinste Schlammsack und ließ seinen einzigen Zahn sehen, »gehst zum Firmenkiosk und kaufst dir ein paar Algenhappen, hm?«
    »Gottverdammt Kaka«, grinste ich zurück.
     
    Das Leben eines Dichters besteht nicht nur aus dem endlichen Sprachtanz des Ausdrucks, sondern auch aus den fast unendlichen Kombinationen von Wahrnehmung und Erinnerung in Verbindung mit der Feinfühligkeit gegenüber dem, was wahrgenommen wird und woran man sich erinnert. Meine drei lokalen Jahre auf Heaven’s Gate, fast fünfzehnhundert Standardtage,

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