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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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erlaubten mir zu sehen, zu fühlen, zu hören, als
wäre ich buchstäblich neu geboren worden. Es spielte kaum eine Rolle, dass ich in der Hölle neu geboren worden war; wiederaufbereitete Erfahrungen sind der Inhalt jeglicher wahrer Dichtung, und eindringlichste Erfahrungen waren das Geburtstagsgeschenk meines neuen Lebens.
    Ich hatte keine Probleme, mich an eine schöne neue Welt anderthalb Jahrhunderte nach meiner eigenen anzupassen. Trotz unserer großen Worte von Expansion und Pioniergeist in den vergangenen fünf Jahrhunderten wissen wir doch alle, wie dumm und statisch unser Menschenuniversum geworden ist. Wir leben in einem behaglichen Dunklen Zeitalter des erfindungsreichen Geistes; Institutionen verändern sich kaum, und wenn, dann durch langsame Evolution und nicht durch Revolution; die wissenschaftliche Forschung schlurft wie eine Krabbe dahin, wo sie früher große intuitive Sprünge gemacht hat; Einrichtungen verändern sich noch weniger; Hochtechnologien, die uns zur Verfügung stehen, könnten von unseren Urgroßvätern mühelos identifiziert – und bedient – werden. Während ich schlief, wurde die Hegemonie zur formellen Einheit, wurde das Weltennetz in seine fast endgültige Form gebracht, das All-Wesen nahm seinen demokratischen Platz in der Reihe der gütigen Despoten der Menschheit ein, und TechnoCore sagte sich vom Dienst am Menschen los und bot seine Hilfe dann als Verbündeter und nicht als Sklave an; die Ousters zogen sich in die Dunkelheit und die Rolle einer Nemesis zurück … Aber das alles hatte sich schon einer kritischen Masse genähert, bevor ich zwischen Schweinebäuchen, Sorbet und Darmflora in meinen eisigen Sarg gebettet worden war, daher erforderte es kaum Anstrengung, derart offensichtliche Fortsetzungen alter Trends zu verstehen. Davon abgesehen ist die Geschichte, von innen gesehen, stets eine dunkle, schwer verdaubare Masse, anders als die leicht als solche zu erkennende Kuh, die Historiker aus großer Ferne sehen.

    Mein Leben war Heaven’s Gate und die Anforderungen, die dort von Minute zu Minute ans Überleben gestellt wurden. Der Himmel bestand aus einem ewigen braungelben Sonnenuntergang und hing wie eine einstürzende Decke nur wenige Meter über meiner Hütte. Meine Hütte war seltsam gemütlich: ein Tisch zum Essen, eine Pritsche zum Schlafen und Ficken, ein Loch zum Pissen und Scheißen und ein Fenster zum stummen Hinausgaffen. Meine Umwelt spiegelte meinen Wortschatz wider.
    Das Gefängnis ist für Schriftsteller stets ein guter Aufenthaltsort gewesen, tötet es doch die beiden Dämonen Beweglichkeit und Ablenkung, und Heaven’s Gate bildete da keine Ausnahme. Dem Atmosphärischen Protektorat gehörte mein Körper, aber mein Verstand – oder was noch davon übrig war – gehörte mir.
    Auf der Alten Erde verfasste ich meine Gedichte mit einem Komlog-Gedankenprozessor Marke Sadu-Dekenar, während ich auf einem Polstersofa lag, mit meiner EM-Barke über dunklen Lagunen schwebte oder versonnen durch duftende Haine lustwandelte; die nichtswürdigen, undisziplinierten, lahmarschigen, aufgeblähten Produkte dieser Zeit habe ich schon beschrieben. Auf Heaven’s Gate fand ich heraus, was für ein geistiger Stimulus körperliche Arbeit sein kann; nicht nur körperliche Arbeit, sollte ich hinzufügen, sondern Schufterei, die einem den Rücken brach, die Lungen zerriss, die Eingeweide zerfetzte, die Gelenke kaputtmachte und die Knochen zerschlug. Aber wenn die Aufgabe monoton und immer gleich ist, steht es dem Denken nicht nur frei, Grate der Fantasie zu erforschen, es fliegt geradezu zu geistigen Höhen.
    Und so kam es, dass ich auf Heaven’s Gate, wo ich unter dem roten Blick von Wega Primo Dreck aus den Schlammkanälen schippte oder auf Händen und Knien durch Stalaktiten und Stalagmiten der Atmungsbakterien in den labyrinthartigen
Lungenröhren der Station kroch, wahrhaftig zum Dichter wurde.
    Mir fehlten nur die Worte.
     
    Der angesehenste Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, William Gass, hat einmal in einem Interview gesagt: »Worte sind die höchsten Objekte. Sie sind geistige Dinge.«
    Das sind sie. So rein und transzendent wie jeder Einfall, der je einen Schatten in Platos dunkle Höhle unserer Wahrnehmung geworfen hat. Aber sie sind auch Fallgruben von Täuschung und Fehlinterpretation. Worte beugen unser Denken zu endlosen Pfaden der Selbsttäuschung, und die Tatsache, dass wir den größten Teil unseres geistigen Lebens in aus Worten erbauten

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