Die Hyperion-Gesänge
katalogisieren. Die Physiker waren von den Anti-Entropiefeldern fasziniert und verbrachten viel Zeit damit, kleine Wimpel in verschiedenen Farben aufzustellen, die die Grenzen der sogenannten Zeitgezeiten kennzeichneten.
Rachels Team konzentrierte seine Arbeit auf ein Gebilde, das Sphinx genannt wurde, obwohl das in Stein abgebildete Geschöpf weder Mensch noch Löwe war; ja, es konnte sein, dass es sich überhaupt nicht um ein Geschöpf handelte, obwohl die glatten Kurven auf der Spitze des Steinmonolithen auf etwas Lebendes hindeuteten und die ausgebreiteten Anhängsel in allen den Eindruck von Flügeln erweckten. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern, die offen und leicht zu inspizieren waren, war die Sphinx eine Masse großer Quader mit engen Korridoren, die sich manchmal unmöglich verjüngten und manchmal die Proportionen eines Auditoriums annahmen, aber nirgends hinführten und letztlich immer wieder im Kreis verliefen. Es gab keine Grabkammern, keine Schatzkammern, keine geplünderten Sarkophage, Fresken an den Wänden oder Geheimgänge – lediglich einen Irrgarten sinnloser Flure durch schwitzenden Stein.
Rachel und Melio Arundez, ihr Liebhaber, kartografierten die Sphinx, wobei sie eine Methode benützten, die seit mindestens siebenhundert Jahren angewendet wurde und irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert in den ägyptischen Pyramiden erstmals getestet worden war. Sie postierten hochempfindliche Detektoren von radioaktiver und kosmischer Strahlung am tiefsten Punkt der Sphinx und zeichneten Ankunftspunkt und Ablenkungsmuster der Teilchen auf, die die
Steinstruktur über ihnen passierten, und suchten so nach verborgenen Kammern oder Durchgängen, die auch mit einem Tiefenradar nicht zu sehen sein würden. Weil die Touristen Hochsaison hatten und der Heimat-Regierungsrat von Hyperion Bedenken vorbrachte, die Zeitgräber könnten durch solche Untersuchungen beschädigt werden, begaben sich Rachel und Melio jede Nacht um Mitternacht zur Stätte, legten den halbstündigen Fußmarsch zurück und schlichen durch das Labyrinth der Korridore, das sie mit blauen Glühkugeln ausgeleuchtet hatten. Dort saßen sie bis zum Morgen unter Hunderttausenden Tonnen Stein, studierten ihre Instrumente und lauschten über Kopfhörer dem Piepsen von Teilchen, die in den Eingeweiden sterbender Sterne geboren worden waren.
Bei der Sphinx waren die Gezeiten der Zeit kein Problem. Von allen Gräbern schien sie am wenigsten von den Anti-Entropiefeldern geschützt zu werden, und die Physiker hatten sorgfältig die Zeiten gemessen, zu denen die Gezeitenwogen eine Gefahr darstellen konnten. Flut herrschte um 10:00 Uhr, doch diese ebbte nur zwanzig Minuten später wieder in Richtung des einen halben Kilometer südlich gelegenen Jadegrabs ab. Touristen durften sich der Sphinx erst ab 12:00 Uhr nähern, und damit eine Sicherheitsspanne blieb, achtete die Führung darauf, dass sie bis 09:00 Uhr alle wieder weg waren. Das Physikerteam hatte an den Pfaden und Fußwegen zwischen den Gräbern an verschiedenen Stellen chronotropische Sensoren aufgestellt, die auf Variationen der Gezeiten aufmerksam machen und gleichzeitig Besucher warnen sollten.
Als sie nur noch drei Wochen ihres Forschungsjahrs auf Hyperion zu absolvieren hatte, wachte Rachel eines Nachts auf, ließ ihren Geliebten schlafen und fuhr mit einem Bodenjeep vom Lager zu den Gräbern. Sie und Melio waren übereingekommen, dass es unsinnig war, die Monitore jede Nacht gemeinsam zu überwachen; nun wechselten sie sich ab, einer
arbeitete an der Stätte, während der andere Daten sammelte und das letzte Projekt vorbereitete: eine Radarkartografierung der Dünen zwischen dem Jadegrab und dem Obelisken.
Die Nacht war kühl und wunderschön. Die Vielfalt der Sterne reichte von Horizont zu Horizont, vier- bis fünfmal so viel, wie Rachel hatte sehen können, als sie auf Barnards Welt aufgewachsen war. Die flachen Dünen flüsterten und verschoben sich im heftigen Wind, der von den Bergen im Süden wehte.
Rachel stellte fest, dass die Scheinwerfer an der Stätte noch brannten. Die Physiker machten gerade Feierabend und beluden ihren Jeep. Sie unterhielt sich mit ihnen, trank eine Tasse Kaffee mit ihnen, bevor sie wegfuhren, zog dann den Rucksack über und machte sich an den fünfundzwanzigminütigen Marsch in die Talsohle der Sphinx.
Zum hundertsten Mal fragte sich Rachel, wer die Gräber gebaut hatte – und zu welchem Zweck. Aufgrund der Anti-Entropiefelder war eine Datierung der
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