Die Hyperion-Gesänge
von ihnen ins Gefängnis, um ein Exempel zu statuieren, und entzog dem Rest die Farcastervisa.
Am Abend ging Sol in den Hügeln über dem Dorf spazieren, während Judy auf das schlafende Kind aufpasste. Er hatte festgestellt, dass seine Zwiesprache mit Gott jetzt hörbar geworden war, und er kämpfte gegen den Impuls an, die Faust zum Himmel zu schütteln, Obszönitäten zu brüllen, mit Steinen zu werfen. Stattdessen stellte er Fragen, die stets aufhörten mit: Warum?
Er bekam keine Antwort. Hebrons Sonne ging hinter den fernen Bergen unter, und die Felsen glühten, als sie die Wärme abgaben. Sol setzte sich auf einen Stein und rieb sich die Schläfen mit den Handflächen.
Sarai.
Sie hatten ein erfülltes Leben gehabt, trotz der Tragödie von Rachels Krankheit, die über sie gekommen war. Es war zu ironisch, dass ausgerechnet in Sarais erster ruhiger Stunde mit ihrer Schwester … Sol stöhnte laut.
Die Falle war natürlich gewesen, dass sie sich einzig und allein wegen Rachels Krankheit Gedanken gemacht hatten. Keiner hatte sich eine Zukunft nach Rachels – Tod? – Verschwinden?
– vorstellen können. Die Welt hatte sich um jeden Tag gedreht, den ihr Kind lebte, an einen Unfall, die perverse Antilogik eines scharfkantigen Universums, hatte niemand gedacht. Sol war sicher, Sarai hatte wie er manchmal an Selbstmord gedacht, aber keiner hätte den anderen je im Stich lassen können. Oder Rachel. Er hatte nie mit der Möglichkeit gerechnet, mit Rachel allein zu sein, wenn …
Sarai!
In diesem Augenblick war Sol klar geworden, dass die häufig wütenden Dialoge mit Gott, die sein Volk seit so vielen Jahrtausenden führte, nicht mit dem Tod der Alten Erde aufgehört hatten – oder mit der Neuen Diaspora –, sondern immer noch andauerten. Er und Rachel und Sarai waren ein Teil davon gewesen, waren jetzt noch ein Teil davon. Er ließ den Schmerz kommen. Dieser erfüllte ihn mit der scharfkantigen Qual der Entschlossenheit.
Sol stand auf der Hügelkuppe und weinte, als sich die Dunkelheit niedersenkte.
Am nächsten Morgen saß er neben Rachels Bett, als Sonnenschein ins Zimmer strömte.
»Guten Morgen, Daddy.«
»Guten Morgen, Süße.«
»Wo sind wir, Daddy?«
»Wir haben eine Reise gemacht. Es ist ein hübscher Ort.«
»Wo ist Mommy?«
»Die ist heute bei Tante Tetha.«
»Ist sie morgen wieder da?«
»Ja«, sagte Sol. »Und jetzt wollen wir dich anziehen und Frühstück machen.«
Sol begann mit seinen Petitionen an die Kirche des Shrike, als Rachel drei wurde. Der Verkehr nach Hyperion war streng begrenzt, Zugang zu den Zeitgräbern war praktisch unmöglich
geworden. Nur ab und zu durften Pilger zum Shrike in diese Gegend.
Rachel war traurig, dass sie an ihrem Geburtstag nicht bei ihrer Mutter sein konnte, aber der Besuch einiger Kinder aus dem Kibbuz lenkte sie ein wenig ab. Ihr großes Geschenk war ein illustriertes Märchenbuch, das Sarai vor vielen Monaten bei einem Besuch in Neu-Jerusalem ausgesucht hatte.
Sol las Rachel vor dem Schlafengehen ein paar Märchen vor; es war sieben Monate her, seit sie selbst hatte lesen können. Aber die Märchen gefielen ihr – besonders Dornröschen –, und manche musste ihr Vater ihr zweimal vorlesen.
»Ich werde es Mommy zeigen, wenn wir daheim sind«, sagte sie gähnend, und Sol machte das Licht aus.
»Gute Nacht, Kleines«, sagte er leise und blieb in der Tür stehen.
»Hey, Daddy?«
»Ja?«
»Later, alligator.«
»While, crocodile.«
Rachel kicherte in ihr Kissen.
Es war, dachte Sol in den letzten zwei Jahren, etwa so, als würde man zusehen, wie ein geliebter Mensch altert. Nur schlimmer. Tausendmal schlimmer.
Rachels zweite Zähne waren zwischen ihrem achten und zweiten Geburtstag nacheinander ausgefallen. Sie wurden von Milchzähnen ersetzt, aber als sie achtzehn Monate war, war die Hälfte davon schon wieder in den Kiefern verschwunden.
Rachels Haar, auf das sie immer so stolz gewesen war, wurde kürzer und dünner. Ihr Gesicht verlor die bekannte Struktur, als Babyspeck die Wangen und das Kinn aufquellen ließ. Ihre Koordination ließ nach, was man zuerst daran merkte,
wie ungeschickt sie Gabel oder Bleistift hielt. An dem Tag, als sie nicht mehr laufen konnte, legte Sol sie frühzeitig ins Kinderbettchen, ging in sein Arbeitszimmer und betrank sich still und gründlich.
Die Sprache war das Schlimmste für ihn. Der Verlust ihres Wortschatzes war, als würde eine Brücke zwischen ihnen niedergebrannt, ein letztes Tau
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