Die Hyperion-Gesänge
grelle Sonne und kippte fast um. Ein schwarzer Vogel kreiste über ihm oder in seiner Vision. Sol schüttelte die Faust zum grauen Himmel hinauf.
– Du benutzt Nazis als deine Instrumente. Wahnsinnige. Ungeheuer! Du bist selbst ein Ungeheuer!
– Nein.
Die Erde neigte sich, und Sol fiel auf dem scharfen Felsen auf die Seite. Er dachte sich, dass es kaum anders war, als würde er sich gegen eine rauhe Wand lehnen. Ein Stein so groß wie seine Faust verbrannte ihm die Wange.
– Für Abraham war die richtige Antwort Gehorsam, dachte Sol. Ethisch gesehen war Abraham selbst ein Kind. Das waren alle Menschen damals. Die richtige Antwort für Abrahams Kinder war, zu Erwachsenen zu werden und sich selbst stattdessen darzubieten. Was ist die richtige Antwort für uns ?
Es gab keine Antwort. Boden und Himmel hörten auf, sich zu drehen. Nach einer Weile stand Sol benommen auf, wischte
sich Blut und Staub von der Wange und ging zur Stadt unten im Tal hinab.
»Nein«, sagte Sol zu Sarai, »wir gehen nicht nach Hyperion. Das ist nicht die richtige Lösung.«
»Also sollen wir nichts tun.« Sarais Lippen waren weiß, als sie antwortete, aber sie hatte ihre Stimme eisern unter Kontrolle.
»Nein. Ich möchte nur nicht, dass wir etwas Falsches tun.«
Sarai atmete zischend aus. Sie winkte zum Fenster, wo ihre Vierjährige zu sehen war, die im Garten mit ihren Spielzeugpferden spielte. »Glaubst du, sie hat ewig Zeit, darauf zu warten, dass wir das Falsche tun – oder überhaupt etwas tun?«
»Setz dich, Mutter.«
Sarai blieb stehen. Auf ihrem braunen Baumwollkleid waren Spuren verschütteten Zuckers zu sehen. Sol dachte an die junge Frau, die nackt aus dem phosphoreszierenden Kielwasser der beweglichen Insel auf Maui-Covenant gestiegen war. »Wir müssen etwas tun«, sagte sie.
»Wir waren bei über hundert medizinischen und wissenschaftlichen Spezialisten. Sie ist von zwei Dutzend Forschungszentren untersucht, gepikst, sondiert und gequält worden. Ich war auf jeder Welt im Netz in der Kirche des Shrike – sie empfangen mich nicht. Melio und die anderen Experten der Reichs für Hyperion bestätigen, dass der Shrike-Kult so etwas wie Merlins Krankheit nicht in der Kirchendoktrin verankert hat, und die Eingeborenen auf Hyperion haben keinerlei Legenden oder gar Hinweise auf mögliche Heilmethoden. Die Forschungen in den drei Jahren, die das Team auf Hyperion verbracht hat, sind ergebnislos geblieben. Jetzt sind Forschungen dort illegal. Zugang zu den Zeitgräbern wird nur den sogenannten Pilgern gewährt. Es ist sogar fast unmöglich, ein Einreisevisum für Hyperion zu bekommen.
Und wenn wir Rachel mitnehmen, könnte die Reise sie umbringen.« Sol holte Luft und berührte Sarai wieder am Arm. »Es tut mir leid, dass ich das alles wiederholen muss, Mutter. Aber wir haben etwas getan.«
»Nicht genug«, sagte Sarai. »Und wenn wir als Pilger gehen?«
Sol verschränkte frustriert die Arme. »Die Kirche des Shrike sucht die Opfer aus Tausenden von Freiwilligen aus. Das Netz ist voll von dummen, deprimierten Menschen. Die wenigsten kehren zurück.«
»Beweist das nicht etwas?«, flüsterte Sarai rasch, drängend. »Etwas oder jemand holt diese Menschen.«
»Banditen«, sagte Sol.
Sarai schüttelte den Kopf. »Der Golem.«
»Du meinst das Shrike.«
»Es ist der Golem«, beharrte Sarai. »Derselbe, den wir in den Träumen sehen.«
Sol war unbehaglich zumute. »Ich sehe keinen Golem in meinem Traum. Was für einen Golem?«
»Die roten Augen, die alles beobachten«, sagte Sarai. »Es ist derselbe Golem, den Rachel in jener Nacht in der Sphinx gehört hat.«
»Woher weißt du, dass sie etwas gehört hat?«
»Aus dem Traum «, sagte Sarai. »Bevor wir den Saal betreten, wo der Golem wartet.«
»Wir haben nicht denselben Traum geträumt«, sagte Sol. »Mutter, Mutter … warum hast du mir das nicht vorher erzählt?«
»Ich habe geglaubt, ich verliere den Verstand«, flüsterte Sarai.
Sol dachte an seine heimlichen Gespräche mit Gott und legte einen Arm um seine Frau.
»O Sol«, flüsterte sie, »es tut so weh, es mit anzusehen. Und es ist so einsam hier.«
Sol hielt sie. Sie hatten versucht, nach Hause zurückzukehren – ihr Zuhause würde immer Barnards Welt bleiben –, ein halbes Dutzend Mal, um Freunde oder Verwandte zu besuchen, und jedes Mal waren die Besuche durch eine Invasion von Reportern und Touristen kaputt gemacht worden. Niemand war schuld. Nachrichten verbreiteten sich fast augenblicklich
Weitere Kostenlose Bücher