Die Hyperion-Gesänge
Schwingen bezeichnet werden.
Brawne Lamia sieht sich um, findet keine Spur von Pater Hoyt und überlegt, ob sie um Hilfe rufen soll. Ihr wird klar, dass man ihre Stimme über das Heulen des Windes hinweg
nicht hören wird. Sie fragt sich für einen Moment, ob der Priester lediglich in eines der anderen Zelte oder zu der behelfsmäßigen Latrine zwanzig Meter westlich gegangen ist, aber etwas sagt ihr, dass dies nicht der Fall ist. Sie schaut zur Sphinx und sieht – einen Sekundenbruchteil nur – möglicherweise die Gestalt eines Mannes mit wie ein Banner flatterndem schwarzem Mantel und gegen den Wind gekrümmten Schultern als Umriss vor dem statischen Leuchten des Grabs.
Eine Hand fällt auf ihre Schulter.
Brawne Lamia duckt sich weg und geht in Angriffshaltung, linke Hand ausgestreckt, rechte Faust starr. Sie erkennt Kassad, der dort steht. Der Oberst ist um die Hälfte größer als Lamia und halb so breit – Miniaturblitze huschen über seine schlanke Gestalt, während er sich herunterbeugt und ihr etwas ins Ohr brüllt. »Er ist dorthin gegangen!« Der lange, schwarze Vogelscheuchenarm streckt sich der Sphinx entgegen.
Lamia nickt und brüllt zurück, kann aber ihre Stimme selbst kaum über das Heulen hinweg verstehen. »Sollen wir die anderen wecken?« Sie hatte vergessen, dass Kassad Wache hielt. Schlief dieser Mann denn niemals?
Fedmahn Kassad schüttelt den Kopf. Seine Visiere sind hochgeklappt, der Helm destrukturiert, sodass er am Rücken des gefechtsgepanzerten Overalls eine Kapuze bildet. Im Glanz seines Anzugs sieht Kassads Gesicht sehr blass aus. Er deutet zur Sphinx. Die Vielzweckwaffe von FORCE hält er in der linken Armbeuge. Granaten, Fernglasgehäuse und geheimnisvollere Gerätschaften hängen an Ösen und Karabinerhaken des Schutzpanzers. Er deutet noch einmal zur Sphinx.
Lamia beugt sich nach vorn und brüllt: »Hat ihn das Shrike geholt?«
Kassad schüttelt den Kopf.
»Können Sie ihn sehen?« Sie deutet auf sein Nachtvisier und das Fernglas.
»Nein«, sagt Kassad. »Der Sturm. Verweht Wärmespuren.«
Brawne Lamia dreht dem Wind den Rücken zu und spürt, wie Teilchen ihren Hals treffen wie Nadeln eines Betäubungsgewehrs. Sie befragt ihr Komlog, doch das verrät ihr nur, dass Hoyt noch lebt und in Bewegung ist; sonst wird nichts auf der gemeinsamen Frequenz übermittelt. Sie bewegt sich, bis sie neben Kassad ist und ihre Rücken einen Schutz gegen die Böen bilden. »Sollen wir ihm folgen?«, fragt sie.
Kassad schüttelt den Kopf. »Wir dürfen die Grenze nicht unbewacht lassen. Ich habe Alarmanlagen hinterlassen, aber …« Er deutet in den Sturm.
Brawne Lamia duckt sich ins Zelt zurück, zieht die Stiefel an und kommt mit dem Wettercape und der automatischen Pistole ihres Vaters wieder heraus. Eine konventionellere Waffe, ein Schocker Marke Gier, steckt in der Brusttasche ihres Capes. »Dann gehe ich«, sagt sie.
Zuerst denkt sie, dass der Oberst sie nicht gehört hat, aber dann sieht sie etwas in seinen blassen Augen und weiß, er hat sie gehört. Er klopft auf das militärische Komlog an seinem Handgelenk.
Lamia nickt und vergewissert sich, dass ihr Implantat und Komlog auf den breitesten Frequenzbereich eingestellt sind. »Ich komme wieder«, sagt sie und watschelt die wachsende Düne hinauf. Statische Entladungen leuchten auf ihren Hosenbeinen, der Sand scheint zu leben, da silberweißes Pulsieren von Elektrizität über die mannigfaltige Oberfläche huscht.
Zwanzig Meter vom Lager entfernt kann sie es nicht mehr sehen. Zehn Meter weiter, und die Sphinx ragt über ihr auf. Von Pater Hoyt ist keine Spur zu erkennen; Fußspuren überleben in dem Sturm keine zehn Sekunden.
Der breite Eingang der Sphinx ist offen, schon so lange die Menschheit diesen Ort kennt. Jetzt ist er ein schwarzes Rechteck in der schwach leuchtenden Wand. Die Logik spricht dafür,
dass Hoyt dorthin gegangen ist, und sei es nur, um aus dem Sturm zu kommen, aber etwas abseits jeglicher Logik sagt ihr, dass dies nicht das Ziel des Priesters war.
Brawne Lamia stapft an der Sphinx vorbei, verweilt einige Augenblicke lang in ihrem Windschatten, um sich den Sand vom Gesicht zu wischen und wieder frei zu atmen, dann geht sie weiter und folgt einem kaum erkenntlichen, festgetretenen Trampelpfad zwischen den Dünen. Vor ihr strahlt das Jadegrab milchig grün in der Nacht, seine glatten Kurven und Zinnen schimmern in einem geheimnisvollen Schein.
Lamia sieht blinzelnd noch einmal hin und erblickt den
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