Die Hyperion-Gesänge
je könnte. Auf eine seltsame und merkwürdig spiegelähnliche Weise träumte sie von Johnny, ihrem toten Liebhaber, seiner zu kleinen Nase und dem zu störrischen Kiefer, dem zu langen Haar, das sich über dem Kragen lockte, und seinen Augen – jenen zu ausdrucksvollen, zu vielsagenden Augen, die zu sehr ein Gesicht belebten, das, abgesehen von diesen Augen, jedem x-beliebigen Bauernburschen gehören könnte, der im Umkreis einer Tagesreise von London geboren wurde.
Das Gesicht, von dem sie träumte, war meines. Die Stimme, die sie in ihrem Traum hörte, war meine. Aber der Liebesakt, von dem sie träumte – eine Erinnerung –, mit dem hatte ich nichts zu tun. Ich versuchte, ihrem Traum zu entkommen, und sei es nur, um meinen eigenen zu finden. Wenn ich schon ein Voyeur sein sollte, dann lieber in dem Durcheinander vorfabrizierter Erinnerungen, die als meine eigenen Träume dienten.
Aber mir wurde nicht gestattet, meine eigenen Träume zu träumen. Noch nicht. Ich vermute, ich wurde nur zu dem Zweck geboren – und vom Totenbett erneut geboren –, diese Träume meines toten und fernen Zwillingsbruders zu träumen.
Ich fügte mich, gab mein Bemühen zu erwachen auf und träumte.
Brawne Lamia erwacht ruckartig, unvermittelt; sie wird von einem Geräusch oder einer Bewegung aus ihrem angenehmen Traum gerissen. Einen Moment lang ist sie desorientiert; es ist dunkel und kein Laut zu hören – kein mechanischer –, der lauter wäre als die meisten Geräusche im Stock von Lusus, wo sie lebt; sie ist trunken vor Müdigkeit, weiß aber, dass sie nach sehr kurzem Schlaf erwacht ist; sie ist allein in einem engen, umhüllten Raum, der einem groß geratenen Leichensack gleicht.
Obwohl auf einer Welt groß geworden, wo abgeschlossene Räume Sicherheit vor giftiger Luft, Winden und wilden Tieren bedeuten, wo viele Menschen an Agoraphobie leiden, wenn sie eine der wenigen offenen Gegenden besuchen, aber die wenigsten die Bedeutung von Klaustrophobie kennen, reagiert Brawne Lamia dennoch wie eine Klaustrophobe: Sie schlägt um sich, stößt Schlafsack und Zeltklappe beim panischen Bemühen beiseite, dem engen Kokon aus Fiberplastik zu entkommen, kriecht, zieht sich auf Händen und Unterarmen und Ellbogen vorwärts, bis sie Sand unter den Händen spürt und den Himmel über sich sieht.
Eigentlich nicht den Himmel, wird ihr plötzlich klar, als sie sieht und sich erinnert, wo sie ist. Sand. Ein wehender, tobender, wirbelnder Sandsturm von Teilchen, die ihr Gesicht wie Nadelstiche pieksen. Das Lagerfeuer ist erloschen und von Sand zugeweht. Sand hat sich an den windwärts gelegenen Seiten aller drei Zelte angesammelt, deren Wände flattern und im Wind wie Pistolenschüsse knallen, und Dünen frisch verwehten Sands haben sich rings um das Lager herum gebildet und Rinnen und Furchen und Spalten auf der Leeseite von Zelten und Ausrüstung geschaffen. In den anderen Zelten
regt sich niemand. Das Zelt, in dem sie mit Pater Hoyt untergebracht war, ist halb zusammengefallen und fast unter den wachsenden Dünen begraben.
Hoyt.
Seine Abwesenheit hat sie geweckt. Sogar in ihren Träumen hat ein Teil ihres Bewusstseins das leise Atmen und fast unhörbare Stöhnen des schlafenden Priesters, der mit seinen Schmerzen kämpfte, zur Kenntnis genommen. Irgendwann im Verlauf der letzten halben Stunde war er aufgestanden und hinausgegangen. Wahrscheinlich höchstens vor ein paar Minuten; Brawne Lamia weiß, obwohl sie von Johnny geträumt hat, ist ihr ein Rascheln und Rutschen über das Prasseln von Sand und das Heulen des Windes hinweg aufgefallen.
Lamia steht auf und schirmt die Augen vor dem Sandsturm ab. Es ist sehr dunkel, die Sterne werden von hohen Wolken und dem Sturm auf der Oberfläche verdeckt, aber eine schwache, fast elektrische Strahlung erfüllt die Atmosphäre und spiegelt sich auf den Felsen und Dünen. Lamia stellt fest, dass es sich tatsächlich um Elektrizität handelt, dass die Luft von einer Statik erfüllt ist, die ihre Haarlocken veranlasst, sich in medusengleichen Bewegungen zu winden und zu schlängeln. Statische Entladungen kriechen an den Ärmeln ihrer Tunika entlang und gleiten wie Elmsfeuer über die Zeltwände.
Als sich ihre Augen angepasst haben, sieht Lamia, dass fahles Feuer in den wandernden Dünen leuchtet. Vierzig Meter im Osten ist das Grab namens Sphinx ein knisternder, pulsierender Umriss in der Nacht. Ströme bewegen sich an den abgespreizten Auswüchsen entlang, die häufig als
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