Die Hyperion-Gesänge
überhaupt nicht bekannt war. Die KIs im Core wussten alles, was sich hier auf Hyperion abspielte. Sollte mein Körper jetzt sterben, würde mir derselbe Fluchtweg wie immer offenstehen – ich konnte die pulsierenden Verbindungswege entlang fliehen, die wie geheime Durchgänge jenseits des Netzes führten, jenseits der fernsten Weiten der Dateiebene, wie die Menschheit sie je gekannt hatte, und durch Datenverbindungstunnel zum TechnoCore selbst. Eigentlich nicht zum Core, dachte ich, denn der Core umringt, umhüllt den Rest wie ein Ozean unterschiedliche Strömungen, gewaltige Golfströme, die sich selbst als unabhängige Meere betrachten.
»Ich wünschte, es gäbe ein Fenster«, sagte Leigh Hunt.
»Ja«, sagte ich. »Ich auch.«
Das Landungsboot ruckte und schwankte, als wir in die obersten Schichten der Atmosphäre von Hyperion eindrangen. Hyperion, dachte ich. Das Shrike. Das dicke Hemd und meine Weste schienen feucht und klebrig zu sein. Ein leises Säuseln von draußen verriet, dass wir flogen, mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit durch den lapislazulifarbenen Himmel rasten.
Der junge Leutnant beugte sich über den Mittelgang. »Zum ersten Mal unten, die Herren?«
Hunt nickte.
Der Leutnant kaute Kaugummi, um zu zeigen, wie entspannt er war. »Sind Sie zwei Ziviltechniker von der Hebrides ?«
»Von dort kommen wir gerade, ja«, sagte Hunt.
»Dachte ich mir«, sagte der Leutnant grinsend. »Ich bringe eine Kuriersendung zum Stützpunkt der Marines bei Keats. Mein fünfter Ausflug.«
Ich zuckte zusammen, als mir der Name der Hauptstadt ins Gedächtnis gerufen wurde; Hyperion war vom Traurigen König Billy und seiner Gruppe von Dichtern, Künstlern und anderen Taugenichtsen neu besiedelt worden, die vor einer Invasion ihrer Heimatwelt durch Horace Glennon-Height geflohen waren – eine Invasion, die nie erfolgte. Der Dichter, der an der momentanen Pilgerfahrt teilnahm, Martin Silenus, hatte den Traurigen König Billy vor mehr als zweihundert Jahren bei der Namensgebung der Hauptstadt beraten. Keats. Die Einheimischen nannten die Altstadt Jacktown.
»Sie werden Ihren Augen nicht trauen, wenn Sie diesen Ort sehen«, sagte der Leutnant. »Er ist das wahrhaftige Analende des Nichts. Ich meine, keine Datensphäre, keine EMVs, keine Farcaster, keine Stimsim-Bars, gar nichts. Kein Wunder, dass sich die Scheißeingeborenen zu Tausenden um den Raumhafen drängen und den Zaun einreißen, damit sie fortkommen.«
»Greifen sie wirklich den Raumhafen an?«, fragte Hunt. »Ach wo«, sagte der Leutnant und ließ seinen Kaugummi platzen. »Aber sie sind dazu bereit , wenn Sie verstehen, was ich meine. Darum hat das Zweite Marinebataillon dort einen Kordon errichtet und den Zugang zur Stadt gesichert. Außerdem denken die Tölpel immer noch, dass wir demnächst Farcaster aufbauen, damit sie aus der Scheiße rauskönnen, in die sie sich selbst gebracht haben.«
»Sie haben sich selbst dorthin gebracht?«, fragte ich.
Der Leutnant zuckte mit den Achseln. »Irgendwas müssen sie ja getan haben, dass die Ousters so sauer auf sie sind, oder
nicht? Wir sind nur hier, um ihnen die Austern aus dem Feuer zu holen.«
»Die Kastanien«, sagte Leigh Hunt.
Der Kaugummi platzte. »Was auch immer.«
Das Säuseln des Windes wurde zu einem Heulen, das man deutlich durch die Hülle hindurchhören konnte. Das Landungsboot ruckte zweimal, dann glitt es ruhig dahin – geheimnisvoll ruhig –, als wäre es zehn Meilen über dem Boden in einen Korridor aus Eis eingeflogen.
»Ich wünschte, wir hätten ein Fenster«, flüsterte Leigh Hunt.
Es war warm und stickig in dem Landungsboot. Das Schwanken war seltsam entspannend, als würde ein kleines Schiff auf den Wellen steigen und fallen. Ich machte für ein paar Minuten die Augen zu.
10
Sol, Brawne, Martin Silenus und der Konsul tragen Ausrüstung, Het Masteens Möbiuskubus und den Leichnam von Pater Hoyt den langgestreckten Hang zum Eingang der Sphinx hinunter. Es schneit jetzt immer dichter, die Flocken vollführen über den ohnehin wandernden Dünenkämmen einen komplexen Tanz windgepeitschter Teilchen. Obwohl die Nacht laut den Komlogs zu Ende geht, ist im Osten keine Spur des Sonnenaufgangs zu sehen. Wiederholte Rufe über die Funkverbindung der Komlogs an Oberst Kassad sind unbeantwortet geblieben.
Sol Weintraub zögert vor dem Eingang des Zeitgrabs mit Namen Sphinx. Er spürt die Präsenz seiner Tochter als Wärme unter dem Cape, als Auf und Ab von warmem Babyatem am Hals.
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