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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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von ihrem Massenverschwinden jeden Tag vor Sonnenuntergang und der einheitlichen zweistündigen Schlafperiode, machen sie sehr wenig als Gruppe. Selbst ihre Wohnordnung scheint beliebig zu sein. Al verbringt eine Schlafperiode mit Betty, die nächste mit Gam, die dritte mit Zeida oder Pete. Kein System oder Plan ist ersichtlich. Jeden dritten Tag geht die siebzigköpfige Gruppe in den Wald und kehrt mit Beeren, Chalmawurzeln und -rinde, Früchten und was sonst essbar sein könnte zurück. Ich war überzeugt, dass sie Vegetarier sind, bis ich gesehen habe, wie Del den Leichnam eines Baumaffenjungen gemampft hat. Der kleine Primat muss von den hohen Ästen abgestürzt sein. Es scheint demnach, als würden die Fünf Dutzend und Zehn Fleisch doch nicht verschmähen; sie sind schlichtweg zu dumm, um zu jagen und zu töten.
    Wenn die Bikura durstig sind, gehen sie fast dreihundert Meter zu einem Bach, der sich in die Kluft hinab ergießt. Trotz dieser Mühe gibt es keine Spur von Wasserschläuchen, Krügen oder irgendeiner Art von Töpferarbeiten. Ich bewahre meinen Wasservorrat in vierzig Liter fassenden Plastikkanistern auf,
aber das beachten die Eingeborenen gar nicht. Bei meinem sinkenden Respekt vor diesen Menschen finde ich es nicht mehr unwahrscheinlich, dass sie Generationen in einem Dorf ohne verfügbare Wasserquelle zugebracht haben.
    »Wer hat die Häuser gebaut?«, frage ich. Sie haben kein Wort für Dorf.
    »Die Fünf Dutzend und Zehn«, antwortet Will. Ich kann ihn von den anderen nur durch einen gebrochenen und nicht richtig verheilten Finger unterscheiden. Jeder hat mindestens ein solches Unterscheidungsmerkmal, aber manchmal denke ich, es wäre leichter, Krähen auseinanderzuhalten.
    »Wann haben sie sie gebaut?«, frage ich, obwohl ich mittlerweile wissen müsste, dass eine Frage, die mit »Wann« anfängt, keine Antwort bekommen wird.
    Ich bekomme keine Antwort.
    Sie gehen jeden Abend in die Kluft. Die Ranken hinunter. Am dritten Abend habe ich versucht, diese Massenwanderung zu beobachten, aber sechs drehten sich vom Rand um und brachten mich sanft, aber bestimmt zu meiner Hütte zurück. Das war die erste Tat der Bikura, die auf so etwas wie Aggression schließen ließ, und ich saß verdrossen in meiner Hütte, als sie gegangen waren.
    Als sie am nächsten Abend gingen, begab ich mich leise in meine Hütte und sah nicht einmal hinaus, doch als sie zurückgekehrt waren, holte ich Foto und Stativ, die ich am Rand aufgestellt gehabt hatte. Die Zeituhr hatte perfekt funktioniert. Die Holos zeigten die Bikura, die die Ranken ergriffen und so behende wie die kleinen Baumwesen, die in den Chalma- und Wehrholzwäldern hausen, die Wand der Klippe hinunterkletterten. Dann verschwanden sie unter dem Überhang.
    »Was macht ihr, wenn ihr jeden Abend die Klippe hinunterklettert?« , fragte ich Al am nächsten Tag.
    Der Eingeborene sah mich mit diesem engelsgleichen Buddhalächeln
an, das ich so sehr hassen gelernt habe. »Du gehörst zur Kruziform«, sagte er, als wäre damit alles beantwortet.
    »Betet ihr, wenn ihr die Klippe hinuntergeht?«, fragte ich.
    Keine Antwort.
    Ich dachte ein Weilchen nach. »Ich folge auch dem Kreuz«, sagte ich dann und wusste, es würde mit »Gehöre zur Kruziform« übersetzt werden. In absehbarer Zeit werde ich das Übersetzungsprogramm nicht mehr brauchen, aber diese Unterhaltung war zu wichtig, um etwas dem Zufall zu überlassen. »Heißt das, ich soll euch begleiten, wenn ihr an der Klippe hinuntersteigt?«
    Einen Augenblick dachte ich, Al würde nachdenken. Seine Stirn bekam Wellen, und da wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal einen der Fünf Dutzend und Zehn mit so etwas wie einem Stirnrunzeln gesehen hatte. Dann sagte er: »Du kannst nicht. Du gehörst zur Kruziform, aber du gehörst nicht zu den Fünf Dutzend und Zehn.«
    Mir war klar, dass jedes Neuron und jede Synapse in seinem Gehirn erforderlich gewesen war, diese Unterscheidung darzulegen.
    »Was würdet ihr machen, wenn ich an der Klippe hinuntersteigen würde?«, fragte ich, rechnete aber nicht mit einer Antwort. Hypothetische Fragen hatten fast immer so viel »Erfolg« wie zeitabhängige Fragen.
    Dieses Mal jedoch antwortete er. Das engelsgleiche Lächeln und sorglose Äußere kamen wieder zum Vorschein, und Alpha sagte leise: »Wenn du versuchst, die Klippe hinunterzugehen, drücken wir dich auf das Gras, nehmen scharfe Steine, schneiden dir die Kehle durch und warten, bis dein Blut aufhört zu fließen und

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