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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ließen wie ein abgestochenes Schwein.
    Der mir am nächsten stehende Bikura trat nach vorne, blieb fünf Schritte von mir entfernt stehen und sagte etwas mit leiser, monotoner Stimme.
    »Einen Augenblick«, sagte ich und kramte mein Komlog heraus. Ich gab die Übersetzungsfunktion ein.
    »Bitu err menna ota kruzfom ghöt?«, fragte der kleine Mann vor mir.
    Ich setzte den Ohrstöpsel gerade noch rechtzeitig ein, dass ich die Übersetzung des Komlog mitbekam. Keine zeitliche
Verschiebung. Die scheinbar fremde Sprache war nichts weiter als eine schlichte Verballhornung des archaischen Saatschiffenglischen und unterschied sich nicht so sehr vom Eingeborenenkauderwelsch der Plantagen. »Du bist der Mann, der zur Kreuzgestalt/Kruziform gehört«, interpretierte das Komlog, wobei es mir zwei Möglichkeiten für das zweite Substantiv gab.
    »Ja«, sagte ich und wusste jetzt, dass sie mich in der Nacht berührt hatten, als ich Tuks Ermordung verschlief. Was bedeutete, sie waren diejenigen, die Tuk ermordet hatten.
    Ich wartete. Der Jagdstrahler war in meinem Rucksack. Der Rucksack lehnte an einer kleinen Chalma keine zehn Schritte entfernt. Ein halbes Dutzend Bikura standen zwischen mir und dem Rucksack. Unwichtig. Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich keine Waffe gegen ein anderes Menschenwesen erheben würde, auch nicht gegen Wesen, die meinen Führer ermordet hatten und mich möglicherweise auch jeden Augenblick ermorden würden. Ich machte die Augen zu und sprach ein stummes Bußgebet. Als ich die Augen wieder aufschlug, waren noch mehr Bikura eingetroffen. Die Bewegungen hörten auf – als wäre eine beschlussfähige Anzahl zusammengekommen und eine Entscheidung gefällt worden.
    »Ja«, sagte ich in die Stille. »Ich trage das Kreuz.« Ich hörte, wie der Komloglautsprecher das letzte Wort als »kruzfom« übersetzte.
    Die Bikura nickten unisono, danach sanken sie alle – als hätten sie lange als Messknaben geübt – mit leise raschelnden Gewändern zu einem perfekten Kniefall nieder.
    Ich machte den Mund auf, um zu sprechen, und stellte fest, dass ich nichts zu sagen hatte. Ich machte den Mund wieder zu.
    Die Bikura standen auf. Ein Windhauch wehte durch die trockenen Chalmawedel und die Blätter und erzeugte ein trockenes Der-Sommer-ist-vorbei-Geräusch über uns. Der Bikura,
der mir linker Hand am nächsten stand, kam näher, ergriff meinen Unterarm mit kalten, kräftigen Fingern und sprach einen leisen Satz, den das Komlog mit »Komm! Es ist Zeit, in die Häuser zu gehen und zu schlafen« übersetzte.
    Es war Spätnachmittag. Ich fragte mich, ob das Komlog das Wort »Schlaf« richtig übersetzt hatte oder ob es sich um ein Idiom oder eine Metapher für »sterben« handeln könnte, nickte und folgte ihnen zu dem Dorf am Rand der Kluft.
    Jetzt sitze ich in der Hütte und warte. Es raschelt. Jemand anders ist auch wach. Ich sitze da und warte.
     
    TAG 97:
    Die Bikura nennen sich selbst die »Fünf Dutzend und Zehn«.
    Ich habe mich die vergangenen sechsundzwanzig Stunden mit ihnen unterhalten, sie beobachtet, mir Notizen gemacht, wenn sie ihren zweistündigen nachmittäglichen »Schlaf« halten, und mich ganz allgemein bemüht, so viel Daten wie möglich zu sammeln, bevor sie beschließen, mir die Kehle durchzuschneiden.
    Aber langsam komme ich zur Überzeugung, dass sie mir nichts tun werden.
    Ich habe gestern nach unserem »Schlaf« mit ihnen gesprochen. Manchmal antworten sie nicht auf Fragen, und manchmal sind ihre Antworten wenig mehr als Grunzlaute oder die widersprüchlichen Informationen, die man von geistig trägen Kindern bekommt. Nach ihrer anfänglichen Frage und knappen Einladung bei unserer Begegnung hat keiner von ihnen auch nur eine einzige weitere Frage oder Bemerkung an mich gerichtet.
    Ich befragte sie subtil, vorsichtig, zurückhaltend und mit der professionellen Ruhe des ausgebildeten Ethnologen. Ich stellte die einfachsten, sachlichsten Fragen, um zu gewährleisten, dass das Komlog ordentlich funktionierte. Das hat es.
Aber selbst mit der Summe aller Antworten war ich noch so unwissend wie vor über zwanzig Stunden.
    Schließlich war ich körperlich und geistig erschöpft, ließ die professionelle Zurückhaltung sein und stellte der Gruppe, bei der ich war, die Frage: »Habt ihr meinen Begleiter getötet?«
    Meine drei Gesprächspartner sahen nicht von ihrer Webarbeit auf, die sie mit einem primitiven Webstuhl ausführten. »Ja«, antwortete derjenige, den ich Alpha genannt habe,

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