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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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dein Herz aufhört zu schlagen.«
    Ich sagte nichts. Ich fragte mich, ob er in diesem Augenblick mein Herz klopfen hörte. Nun, dachte ich, wenigstens
brauchst du dir jetzt keine Gedanken mehr zu machen, dass sie dich für einen Gott halten könnten.
    Das Schweigen zog sich hin. Schließlich fügte Al noch einen Satz hinzu, über den ich seitdem nachdenke. »Und wenn du es wieder machen würdest«, sagte er, »würden wir dich wieder töten müssen.«
    Danach sahen wir uns einige Zeit an; ich glaube, jeder war überzeugt, dass der andere ein ausgemachter Idiot sein musste.
     
    TAG 104:
    Jede neue Enthüllung trägt zu meiner Verwirrung bei.
    Dass es hier keine Kinder gibt, hat mich seit meinem ersten Tag im Dorf beschäftigt. Wenn ich meine Aufzeichnungen durchsehe, muss ich feststellen, dass ich es gelegentlich bei meinen täglichen Beobachtungen vermerkt habe, die direkt ins Komlog diktiert wurden, dass aber nichts davon in diesem persönlichen Mischmasch hier steht, das ich als Tagebuch bezeichne. Vielleicht waren die Folgerungen zu furchterregend.
    Für meine gelegentlichen und unbeholfenen Versuche, dieses Geheimnis zu ergründen, hatten die Fünf Dutzend und Zehn ihre üblichen Erleuchtungen parat: Die befragte Person lächelt strahlend und antwortet mit einem non sequitur, zu dem das Brabbeln des dümmsten Dorfdeppen im Netz im Vergleich wie ein weiser Aphorismus wirken würde. Häufig antworten sie überhaupt nicht.
    Eines Tages stellte ich mich vor denjenigen hin, den ich Del getauft habe, blieb stehen, bis er meine Gegenwart zur Kenntnis nehmen musste, und fragte: »Warum sind keine Kinder hier?«
    »Wir sind die Fünf Dutzend und Zehn«, sagte er leise.
    »Wo sind die Babys?«
    Keine Antwort. Er machte nicht den Eindruck, als wollte er meiner Frage ausweichen, sondern sah mich nur mit leerem Blick an.

    Ich holte tief Luft. »Wer ist der Jüngste unter euch?«
    Del schien nachzudenken und mit dem Konzept zu ringen. Er unterlag. Ich fragte mich, ob die Bikura das Zeitgefühl so weit verloren hatten, dass jede solche Frage zum Scheitern verurteilt war. Nach einminütigem Schweigen deutete Del jedoch auf Al, der im Sonnenschein hockte und an seinem primitiven Handwebstuhl arbeitete, und sagte: »Er ist der Letzte, der zurückkehrt.«
    »Zurückkehrt?«, sagte ich. »Von wo?«
    Del sah mich ohne Gefühlsregung an, nur voll Ungeduld. »Du gehörst zur Kruziform«, sagte er. »Du musst den Weg des Kreuzes kennen.«
    Ich nickte. Ich wusste genug, dass mir klar war, in dieser Richtung lag eine der zahlreichen Unlogikschleifen, die normalerweise unsere Unterhaltungen beendeten. Ich suchte nach einem Weg, den dünnen Informationsfaden nicht zu verlieren. »Dann ist Al«, sagte ich und deutete auf ihn, »der Letzte, der geboren wird. Zurückkehrt. Aber andere werden … zurückkehren?«
    Ich war nicht sicher, ob ich meine eigene Frage verstand. Wie erkundigt man sich nach der Geburt, wenn der Befragte kein Wort für Kind kennt und keine Vorstellung von der Zeit hat? Aber Del schien zu verstehen. Er nickte.
    Ermutigt fragte ich: »Und wann wird der Nächste der Fünf Dutzend und Zehn geboren werden? Zurückkehren?«
    »Niemand kann zurückkehren, bevor er stirbt«, sagte Del.
    Plötzlich glaubte ich zu verstehen. »Also kommen keine neuen Kinder – niemand kehrt zurück, bis jemand gestorben ist«, sagte ich. »Ihr ersetzt den Fehlenden durch einen anderen, damit die Gruppe bei Fünf Dutzend und Zehn bleibt?«
    Del antwortete mit der Art von Schweigen, die ich als Zustimmung zu interpretieren gelernt hatte.
    Das Muster schien logisch zu sein. Den Bikura war es sehr
ernst mit ihren Fünf Dutzend und Zehn. Sie hielten die Stammesbevölkerung bei siebzig – die Zahl, die in den Passagierlisten des Landungsboots vermerkt war, das vor vierhundert Jahren hier notlanden musste. Das war kein Zufall. Wenn jemand stirbt, gestatten sie, dass ein Kind geboren wird, um den Erwachsenen zu ersetzen. Einfach.
    Einfach, aber unmöglich. Natur und Biologie funktionieren nicht so ordentlich. Außer dem Problem minimaler Bevölkerungszahlen gab es noch weitere Absurditäten: Auch wenn es schwer ist, das Alter dieser glatten Menschen zu bestimmen, ist eindeutig, dass nicht mehr als zehn Jahre den Ältesten vom Jüngsten trennen. Sie benehmen sich zwar wie Kinder, aber ich würde schätzen, dass ihr Alter sich zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig in Standardjahren bewegt. Wo also sind die ganz Alten? Wo sind die Eltern, alternden

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