Die Hyperion-Gesänge
berührte. Seine Tochter Rachel stand neben ihm, weder Baby noch Erwachsene, sondern die Achtjährige, die er zweimal gekannt hatte – beim Aufwachsen und beim Rückwärtsaltern durch Merlins Krankheit
–, Rachel, deren hellbraunes Haar zu einem schlichten Zopf geflochten war, verwaschene Jeanslatzhose und Kinderturnschuhe als Kleidung.
Sol ergriff ihre Hand, drückte sie so fest er konnte, ohne ihr weh zu tun, und spürte, wie sie den Griff erwiderte. Dies war keine Illusion, keine letzte Grausamkeit des Shrike. Dies war seine Tochter.
»Sag ja, Daddy.«
Sol hatte Abrahams Problem des Gehorsams gegenüber einem böse gewordenen Gott gelöst. Gehorsam war in der Beziehung zwischen der Menschheit und ihrer Gottheit nicht mehr zwingend. Was aber, wenn das als Opfer erkorene Kind um Gehorsam gegenüber den Launen dieses Gottes bat?
Sol sank neben seiner Tochter auf ein Knie und breitete die Arme aus. »Rachel.«
Sie umarmte ihn mit der Energie, die er von zahllosen ähnlichen Umarmungen in Erinnerung hatte, streckte das Kinn über seine Schulter und drückte mit den Armen fest, um das ganze Ausmaß ihrer Liebe zu zeigen. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Bitte, Daddy, wir müssen ja sagen.«
Sol hielt sie weiter in seiner Umarmung, spürte ihre dünnen Ärmchen um sich und die Wärme ihrer Wange an seiner. Er weinte stumm, spürte Nässe auf den Wangen und in seinem kurzen Bart, war aber nicht bereit, sie auch nur den Augenblick loszulassen, der erforderlich wäre, die Tränen abzuwischen.
»Ich hab dich lieb, Daddy«, flüsterte Rachel.
Da stand er auf, wischte sich mit einer Bewegung des Handrückens das Gesicht ab, nahm Rachels linke Hand fest in seine und begann mit ihr den langen Abstieg zum Altar unten.
Sol erwachte mit dem Gefühl, als würde er fallen, und griff nach dem Baby. Rachel schlief auf seiner Brust, hatte die
Fäustchen geballt und einen Daumen im Mund, aber als er hochschreckte, erwachte sie mit einem Schrei und dem Krümmreflex eines Neugeborenen. Sol stand auf, ließ Decken und Mantel um sich herunterfallen und drückte Rachel fest an sich.
Es war heller Tag. Später Vormittag. Sie hatten geschlafen, während die Nacht gestorben und Sonnenlicht über das Tal und die Gräber geschlichen war. Die Sphinx kauerte über ihnen wie ein Raubtier, die kräftigen Beine hatte sie auf beiden Seiten der Treppe ausgestreckt, wo Sol und Rachel geschlafen hatten.
Rachel weinte, ihr Gesicht war vom Schock des Erwachens, Hunger und der Angst ihres Vaters verzerrt, die sie spürte. Sol stand im grellen Sonnenschein und wiegte sie. Er ging zur obersten Stufe der Sphinx, wechselte ihre Windel, wärmte eines der letzten Nahrungspacks, gab es ihr, bis aus dem Wimmern leises, zufriedenes Greinen geworden war, ließ sie aufstoßen und ging mit ihr herum, bis sie wieder in leichten Schlaf versank.
Weniger als zehn Stunden noch bis zu ihrer »Geburt«. Weniger als zehn Stunden bis Sonnenuntergang und den letzten Minuten des Lebens seiner Tochter. Nicht zum ersten Mal wünschte sich Sol, das Zeitgrab wäre ein großes Glasgebäude, das den Kosmos und die herrschende Gottheit repräsentierte. Er würde Steine nach dem Gebäude werfen, bis keine einzige Scheibe mehr heil war.
Er versuchte sich an die Einzelheiten des Traums zu erinnern, aber dessen Wärme und Zuversicht verflogen im grellen Licht von Hyperions Sonne. Er erinnerte sich nur noch an Rachels geflüsterte Aufforderung. Beim Gedanken, sie dem Shrike zu opfern, verkrampfte sich sein Magen vor Grauen. »Alles wird gut«, flüsterte er ihr zu, während sie zuckend und sich windend in den trügerischen Hafen des Schlafs einlief.
»Alles wird gut, Kindchen. Das Schiff des Konsuls wird bald hier sein. Das Schiff muss jeden Augenblick eintreffen.«
Das Schiff des Konsuls war zur Mittagszeit immer noch nicht da. Der Schiff des Konsuls war am frühen Nachmittag nicht da. Sol lief das Tal auf und ab und rief nach allen, die verschwunden waren, sang halb vergessene Lieder, wenn Rachel aufwachte, und Schlummerlieder, wenn sie wieder eindöste. Seine Tochter war so winzig und leicht – zweitausenddreihundertzweiunddreißig Gramm schwer und achtundvierzig Zentimeter groß bei der Geburt, fiel ihm wieder ein, und er musste lächeln, weil er die antiken Maße seiner alten Heimat Barnards Welt verwendete.
Am Spätnachmittag schreckte er aus seinem Dösen im Schatten unter der ausgestreckten Pfote der Sphinx hoch und stand mit der wachen Rachel in den Armen
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