Die Hyperion-Gesänge
Abgeschiedenheit ohne ersichtlichen Grund.
Die anderen Pilger. Jetzt waren nur noch Sol und das Kind übrig. Pater Duré hätte mit Freuden sein Leben hingegeben, wenn er diese beiden hätte retten können. War es eine Sünde, fragte er sich, wenn man einen Tauschhandel mit dem Antichrist versuchen wollte?
Er befand sich jetzt tief im Tal, fast an der Stelle, wo es sich ostwärts zu der breiten Sackgasse krümmte, in der der Palast des Shrike sein Labyrinth der Schatten auf die Felsen warf. Der Pfad führte dicht an der Nordwestwand an den Höhlengräbern vorbei. Duré spürte den kühlen Luftzug aus dem ersten Höhlengrab und war versucht, es zu betreten, um sich von der Hitze zu erholen, die Augen zu schließen und ein Nickerchen zu machen.
Er ging weiter.
Der Eingang des zweiten Grabes wies barocke Bildhauereien im Stein auf, die Duré an die uralte Basilika erinnerten, die er in der Kluft gefunden hatte – das gewaltige Kreuz und der Altar, wo die verblödeten Bikura »gebetet« hatten. Sie hatten die obszöne Unsterblichkeit der Kruziform angebetet, nicht die Möglichkeit wahrhaftiger Wiederauferstehung, die das Kreuz versprach. Aber wo lag der Unterschied? Duré schüttelte den Kopf und versuchte, Nebel und Zynismus zu vertreiben, die jeden Gedanken umwölkten. Nach dem dritten Höhlengrab, dem kürzesten und unscheinbarsten der drei, stieg der Pfad an.
Im dritten Höhlengrab schien Licht.
Duré blieb stehen, holte Luft und blickte durch das Tal zurück. Die fast einen Kilometer entfernte Sphinx war deutlich zu sehen, aber Sol konnte er im Schatten nicht erkennen. Einen Augenblick lang fragte sich Duré, ob sie tags zuvor im dritten Grab ihr Lager aufgeschlagen hatten – ob jemand eine Laterne dort vergessen hatte.
Nein, es war nicht das dritte Grab gewesen. Abgesehen von der Suche nach Kassad, hatte seit drei Tagen niemand mehr dieses Grab betreten.
Pater Duré wusste, er sollte dem Licht keine Beachtung schenken, zu Sol zurückkehren und bei dem Mann und seiner Tochter Wache halten.
Aber das Shrike ist jedem anderen einzeln erschienen. Warum sollte ich mich dem Ruf entziehen?
Duré spürte Feuchtigkeit auf den Wangen und stellte fest, dass er lautlos und sinnlos weinte. Er wischte die Tränen grob mit dem Handrücken weg und stand mit geballten Fäusten da.
Mein Intellekt war mein höchstes Gut. Ich war der intellektuelle Jesuit, sicher in der Tradition von Teilhard und Prassard verankert. Selbst die Theologie, die ich der Kirche, den Seminarteilnehmern und den wenigen anderen nahebrachte, die noch zuhörten, betonte den Intellekt, den wunderbaren Punkt Omega des Denkens. Gott als kluger Algorithmus.
Nun, manches lässt sich intellektuell nicht erfassen, Paul.
Duré betrat das dritte Höhlengrab.
Sol erwachte erschrocken und war überzeugt, dass sich jemand anschlich.
Er sprang auf die Füße und sah sich um. Rachel gab leise Geräusche von sich, da sie zur selben Zeit wie ihr Vater aus dem Nickerchen erwacht war. Brawne Lamia lag reglos, wo er sie zurückgelassen hatte, die medizinischen Anzeigen leuchteten
immer noch grün, nur die Hirnwellenaktivität zeigte eine flache rote Linie.
Er hatte mindestens eine Stunde lang geschlafen; die Schatten waren über den Talboden gewandert, lediglich die Spitze der Sphinx lag noch im Sonnenschein, wo die Sonne durch die Wolken schien. Schräge Lichtschächte fielen durch den Taleingang herein und erhellten die Felswände gegenüber. Wind kam auf.
Aber im Tal bewegte sich nichts.
Sol hob Rachel hoch, wiegte sie, weil sie schrie, rief die Stufen hinunter und sah hinter der Sphinx nach den anderen Gräbern.
»Paul!« Seine Stimme hallte von Fels wider. Der Wind wirbelte hinter dem Jadegrab Staub auf, sonst regte sich nichts. Sol hatte immer noch das Gefühl, dass sich etwas an ihn anschlich, dass er beobachtet wurde.
Rachel schrie und wand sich in seinem Griff, ihre Stimme war das gepresste, schrille Wimmern eines Neugeborenen. Sol blickte auf sein Komlog. In einer Stunde würde sie einen Tag alt sein. Er suchte am Himmel nach dem Schiff des Konsuls, verfluchte sich selbst leise und ging wieder zum Eingang der Sphinx, wo er dem Baby die Windeln wechselte, nach Brawne sah, ein Nahrungspack aus dem Rucksack holte und sich einen Mantel nahm. Wenn die Sonne untergegangen war, wurde es schnell kalt.
In der halben Stunde Dämmerung, die noch verblieb, schritt Sol rasch das Tal hinab, rief Durés Namen und sah in die Gräber, ohne sie zu betreten.
Weitere Kostenlose Bücher