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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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von Pflanzen, Nagetierfleisch und geschmolzenem Schnee überleben, aber Rachels Milchvorrat war begrenzt, obwohl Brawne Vorräte vom Keep mitgebracht hatte. Dann fiel ihm ein, dass die Milchvorräte unwichtig waren …
    In nicht einmal einem Tag werde ich ganz allein sein.
    Sol unterdrückte ein Stöhnen, als ihm dieser Gedanke kam. Seine Entschlossenheit, dieses Kind zu retten, hatte ihn über zweieinhalb Jahrzehnte und hundertmal so viele Lichtjahre geführt. Sein Wille, Rachel Leben und Gesundheit wiederzugeben, war eine fast greifbare Kraft, eine brennende Energie, die ihm und Sarai eigen gewesen war und die er am Leben gehalten hatte, wie ein Tempelpriester die heilige Tempelflamme am Leben halten mochte. Nein, bei Gott, es gab ein Muster, ein moralisches Fundament dieser scheinbar wahllosen Ereignisse, und Sol Weintraub würde sein Leben und das seiner Tochter auf diese Überzeugung setzen.
    Sol stand auf, ging langsam den Weg zur Sphinx zurück, schritt die Stufen hinauf, holte einen Thermomantel und Decken und machte ein kuschliges Bett für sie beide auf der obersten Stufe, während die Winde von Hyperion heulten und die Gräber noch heller leuchteten.
    Rachel lag auf seiner Brust und dem Bauch, ihre Wange an
seiner Schulter; ihre winzigen Händchen griffen ins Leere, während sie diese Welt hinter sich ließ und ins Reich kindlicher Träume entschwand. Sol hörte ihr sanftes Atmen, als sie in Tiefschlaf sank, hörte leise Geräusche, wenn sie winzige Speichelbläschen blies. Nach einer Weile kehrte auch er der Welt den Rücken und schlief ein.
    30
    Sol hatte den Traum, der ihn immer wieder heimsuchte, seit sich Rachel Merlins Krankheit zugezogen hatte.
    Er ging durch ein gewaltiges Bauwerk, wo Säulen so dick wie Rotholzbäume im Dunkel der Höhe verschwanden und wo scharlachrotes Licht von irgendwo hoch oben hereinfiel wie solide Schächte. Der Lärm einer gewaltigen Feuersbrunst war zu hören, als stünden ganze Welten in Flammen. Vor ihm glühten zwei Ovale in dunkelstem Rot.
    Sol kannte diesen Ort. Er wusste, er würde einen Altar finden, auf dem Rachel lag – Rachel Mitte zwanzig und bewusstlos  –, und dann würde die herrische Stimme ertönen.
    Sol blieb auf dem niedrigen Balkon stehen und blickte auf die bekannte Szene hinab. Seine Tochter, die Frau, der er und Sarai auf Wiedersehen gesagt hatten, als sie aufgebrochen war, um auf dem fernen Hyperion zu forschen, lag nackt auf einem breiten Steinklotz. Über ihr schwebten die roten Ovale der Augen des Shrike. Auf dem Altar lag ein langes, gekrümmtes Messer aus geschliffenem Knochen. Dann ertönte die Stimme:
    »Sol! Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt, genannt Hyperion, und bringe sie an einem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar.«
    Sols Hände zitterten vor Wut und Kummer. Er raufte sich
das Haar, schrie in die Dunkelheit, wiederholte, was er der Stimme schon einmal gesagt hatte:
    »Es gibt keine Opfer mehr, weder Kinder noch Eltern. Keine Opfer mehr. Die Zeit des Gehorsams und der Buße ist vorbei. Hilf uns als Freund oder geh weg!«
    In früheren Träumen hatte das zum Lärm von Wind und Isolation geführt, zu schrecklichen Schritten, die sich in der Dunkelheit entfernten. Aber diesmal beharrte der Traum, der Altar leuchtete und war plötzlich leer, abgesehen von dem Knochenmesser. Die beiden roten Ovale schwebten immer noch in der Höhe, feurige Rubine so groß wie Welten.
    »Sol, hör zu«, sagte die Stimme, die jetzt so verändert war, dass sie nicht von hoch oben dröhnte, sondern ihm fast ins Ohr zu flüstern schien. »Die Zukunft der Menschheit hängt von deiner Entscheidung ab. Kannst du Rachel aus Liebe opfern, wenn schon nicht aus Gehorsam?«
    Sol hörte die Antwort in seinem Kopf, noch während er nach Worten suchte. Es würde keine Opfer mehr geben. Heute nicht. Nie wieder. Die Menschheit hatte genug wegen ihrer Liebe zu den Göttern gelitten, wegen ihrer langen Suche nach Gott. Er dachte an die vielen Jahrhunderte, während derer sein Volk, die Juden, mit Gott verhandelt, gehadert, Ihm die Ungerechtigkeit der Situation vorgeworfen hatten, aber immer – immer – waren sie gehorsam geblieben, unter welchen Opfern auch immer. Generationen waren in den Öfen des Hasses gestorben. Spätere Generationen waren vom kalten Feuer der Strahlung und neuen Hassausbrüchen gezeichnet.
    Diesmal nicht! Nie wieder!
    »Sag ja, Daddy.«
    Sol erschrak, als eine Hand die seine

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