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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Am Jadegrab vorbei, dessen Fassade bereits milchig grün zu leuchten anfing; dort war Hoyt ermordet worden. Am dunklen Obelisken vorbei, dessen Schatten hoch auf die südöstliche Felswand geworfen wurde. Am Kristallmonolithen vorbei, auf dessen Spitze das letzte Tageslicht leuchtete, das erlosch, als die Sonne irgendwo hinter der Stadt
der Dichter unterging. In der unvermittelten Kälte und Stille des Abends an den Höhlengräbern vorbei, wo Sol in jedes hineinrief und klamme Luft im Gesicht spürte wie kalten Atem aus einem offenen Mund.
    Keine Antwort.
    Im letzten Licht der Dämmerung um die Krümmung des Tals zum klingen- und zinnenbewehrten Chaos des Shrike-Palastes, der in der zunehmenden Düsternis dunkel und geheimnisvoll aussah. Sol stand am Eingang und versuchte, den Sinn der pechschwarzen Schatten, Türme, Zinnen und Säulen zu ergründen; er schrie in das dunkle Innere – nur sein Echo antwortete. Rachel fing wieder an zu weinen.
    Sol zitterte, spürte Gänsehaut im Nacken und drehte sich ständig unvermittelt um, damit er den unsichtbaren Beobachter überraschen konnte, erblickte aber nur dunkle Schatten und die ersten Sterne der Nacht zwischen den Wolken am Himmel. Er eilte das Tal entlang zurück zur Sphinx, zuerst mit schnellen Schritten, schließlich rannte er beinahe am Jadegrab vorbei, als der Abendwind mit einem Geräusch wie Kindergeschrei aufkam.
    »Gottverdammt!« , keuchte Sol, als er die Treppe der Sphinx hinaufgestürmt war.
    Brawne Lamia war fort. Weder von ihr selbst noch von der metallenen Nabelschnur war etwas zu sehen.
    Sol fluchte, drückte Rachel fest an sich und kramte im Rucksack nach einer Taschenlampe.
    Zehn Meter im mittleren Flur fand Sol die Decke, in die Brawne gewickelt gewesen war. Dahinter nichts mehr. Die Korridore verzweigten sich und bildeten Kurven, wurden breiter, dann niedriger, wenn die Decke schräg nach unten verlief, sodass Sol kriechen musste, wobei er das Baby im rechten Arm hielt und ihre Wange an seiner lag. Es missfiel ihm, in diesem Grab zu sein. Sein Herz schlug so heftig, dass
er halb damit rechnete, er würde hier und jetzt einen Infarkt bekommen.
    Der letzte Korridor verjüngte sich und endete. Wo das Metallkabel ins Gestein geführt hatte, war jetzt nur noch nackter Stein zu sehen.
    Sol nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, schlug gegen das Gestein, drückte gegen Quader so groß wie Häuser und hoffte, Paneele würden sich bewegen, Flure sich auftun.
    Nichts.
    Sol drückte Rachel fester an sich, machte sich auf den Rückweg, bog mehrmals falsch ab und spürte, wie sein Herz noch schneller schlug, weil er dachte, er hätte sich verirrt. Dann war er in einem Korridor, den er kannte, dann im Hauptkorridor, dann draußen.
    Er trug sein Kind zum Fuß der Treppe und von der Sphinx weg. Am Kopfende des Tals blieb er stehen, setzte sich auf einen flachen Felsen und atmete keuchend. Rachels Wange lag noch an seiner, das Baby gab keinen Laut von sich und regte sich nicht, abgesehen von der Berührung der Finger an Sols Bart.
    Wind wehte vom Ödland hinter ihm herein. Über ihm brach die Wolkendecke auf und schloss sich wieder, verbarg die Sterne, sodass das einzige Licht aus dem widerlichen Leuchten der Zeitgräber bestand. Sol befürchtete, sein rasender Herzschlag könnte dem Baby Angst machen, aber Rachel kuschelte sich weiter ruhig an ihn und spendete ihm mit ihrer Wärme Trost.
    »Verdammt«, flüsterte Sol. Er hatte Brawne Lamia gemocht. Er hatte alle Pilger gemocht – und jetzt waren sie fort. Sols jahrzehntelange Tätigkeit als Akademiker hatte ihn darauf konditioniert, nach Mustern hinter den Ereignissen zu suchen, einem moralischen Körnchen im gewachsenen Stein der Erfahrung, aber auf Hyperion folgten die Geschehnisse keinem Muster – es gab lediglich Verwirrung und willkürlichen Tod.

    Sol wiegte sein Kind, blickte über das Ödland und überlegte, ob er diesen Ort unverzüglich verlassen sollte – zu Fuß zur toten Stadt oder Chronos Keep – nach Nordwesten zur Küstenregion oder nach Südosten, wo der Bridle Range das Meer erreichte. Sol hob eine zitternde Hand zum Gesicht und rieb sich die Wange; in der Wildnis würde er keine Erlösung finden. Martin Silenus hatte es auch nicht geholfen, dass er das Tal verlassen hatte. Man hatte das Shrike weit südlich des Bridle Range gesichtet – bei Endymion und den anderen Städten im Süden –, und selbst wenn das Monster sie verschonte, würden Hunger und Durst das ihre tun. Sol konnte

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