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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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auf der obersten Stufe und holte tief Luft. Das Licht der Sonne war fast greifbar, erfüllte den Himmel und entzündete die Schwingen und die obere Masse der Sphinx. Das Grab selbst schien das Licht freizusetzen, das es gespeichert hatte, wie die Felsen in der Wüste von Hebron, wo Sol vor Jahren in die Wildnis gewandert war, um Erleuchtung zu suchen und lediglich Kummer zu finden. Die Luft selbst flimmerte im Licht, und der Wind nahm zu, wehte Sand über den Talboden und gab ihn wieder frei.
    Sol sank auf der obersten Stufe auf ein Knie und zog Rachels Decke herunter, bis das Kind lediglich die weiche Baumwollkleidung eines Neugeborenen trug.
    Rachel krümmte die Händchen. Ihr Gesicht war purpurn und feucht, die Hände winzig und von der Anstrengung des Ballens und Öffnens gerötet. Sol wusste, dass sie genauso ausgesehen hatte, als der Arzt ihm das Kind gereicht und er seine neugeborene Tochter betrachtet hatte, wie er sie jetzt betrachtete, bevor er sie auf Sarais Bauch gelegt hatte, damit ihre Mutter sie auch sehen konnte.
    »O Gott«, hauchte Sol, ließ sich auch auf das andere Knie sinken und kniete wahrhaftig.
    Das ganze Tal erzitterte wie bei einem Erdbeben. Sol nahm vage die Explosionen wahr, die im Süden andauerten. Aber wichtiger war jetzt das schreckliche Leuchten der Sphinx. Sols Schatten fiel fünfzig Meter hinter ihn über die Treppe und den Talboden, während das Grab in Licht erstrahlte und pulsierte. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass die anderen Gräber ebenso leuchteten – riesige, barocke Reaktoren in den letzten Sekunden vor der Kernschmelze.
    Der Eingang der Sphinx pulsierte blau, dann violett, dann unerträglich weiß. Hinter der Sphinx, auf dem Wall des Plateaus über dem Tal der Zeitgräber, tauchte flimmernd ein
unmöglicher Baum auf, dessen Stamm und Äste aus scharfkantigem Stahl in die leuchtenden Wolken und noch höher emporragten. Sol warf einen raschen Blick hin, sah die drei Meter langen Dornen und die grässlichen Früchte, die sie trugen, dann blickte er wieder zum Eingang der Sphinx.
    Irgendwo heulte der Wind, und Donner grollte. Irgendwo wehte karmesinroter Staub wie Schwaden trockenen Blutes im schrecklichen Licht der Gräber. Irgendwo wurden Stimmen laut, und ein Chor schrie.
    Sol schenkte alledem keine Beachtung. Er hatte nur Augen für das Gesicht seiner Tochter und für den Schatten, der jetzt den erleuchteten Zugang zum Grab ausfüllte.
    Das Shrike kam heraus. Das Ding musste sich bücken, damit seine drei Meter große Gestalt und die Stahlklingen durch die Tür passten. Es – teils Lebewesen, teils Skulptur, die sich mit der schrecklichen Entschlossenheit eines Alptraums bewegte  – betrat die oberste Stufe der Sphinx.
    Das erlöschende Licht von oben spielte über den Panzer des Wesens, funkelte auf der gekrümmten Brustplatte und auf Stahldornen, schimmerte auf Fingerklingen und Skalpellen, die aus jedem Gelenk ragten. Sol drückte Rachel an die Brust und sah in die roten Facettenbrennöfen, die dem Shrike als Augen dienten. Der Sonnenuntergang verblasste zum blutroten Leuchten von Sols ständigem Traum.
    Der Kopf des Shrike drehte sich etwas, kreiste ohne Reibung, rotierte neunzig Grad nach rechts, neunzig Grad nach links, als würde die Kreatur das Terrain sondieren.
    Das Shrike machte drei Schritte vorwärts und blieb keine zwei Meter von Sol entfernt stehen. Die vier Arme des Wesens zuckten und wurden hochgehoben, die Fingerklingen ausgeklappt.
    Sol drückte Rachel fest an sich. Ihre Haut war feucht, das Gesicht fleckig und von der Anstrengung der Geburt gerötet.
Sekunden blieben. Ihre Augen drehten sich asynchron und schienen sich auf Sol zu konzentrieren.
    Sag ja, Daddy. Sol erinnerte sich an den Traum.
    Das Shrike senkte den Kopf, bis die Rubinaugen in dem grässlichen Antlitz nur noch Sol und das Kind ansahen. Die Quecksilberkiefer klappten ein wenig auseinander und zeigten gestaffelte Zahnreihen aus Stahl. Vier Hände schossen nach vorn, die metallenen Handflächen hielten einen halben Meter von Sols Gesicht entfernt inne.
    Sag ja, Daddy. Sol erinnerte sich an den Traum, erinnerte sich an die Umarmung seiner Tochter und kam zur Überzeugung, dass am Ende – wenn alles andere zu Staub zerfallen ist – Loyalität gegenüber denen, die wir lieben, das Einzige ist, das wir mit ins Grab nehmen können. Glaube – wahrer Glaube  – bestand darin, auf diese Liebe zu vertrauen.
    Sol hob sein neugeborenes und sterbendes Kind, Sekunden alt, das

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