Die Hyperion-Gesänge
Horizont des Gesichtsfelds. Ich weiß, dass es meinen Namen kennt. Ich weiß, dass es mein Leben auf einer Handfläche und den Tod in der anderen Faust hält.
Es gibt kein Versteck in diesem Raum jenseits des Raums. Ich kann nicht weglaufen. Der Sirenengesang der Schmerzen erklingt weiterhin an- und abschwellend aus der Welt, die ich verlassen habe – die alltäglichen Schmerzen jeder Person überall, die Schmerzen derjenigen, die unter dem gerade begonnenen Krieg leiden, die spezifischen, scharf gebündelten Schmerzen aller am grässlichen Baum des Shrike und am schlimmsten die Schmerzen, die ich empfinde, und die der Pilger und aller anderen, an deren Leben ich jetzt Anteil habe.
Es würde sich lohnen, diesem gewaltigen näherschleichenden
Schatten der Vernichtung entgegenzueilen, wenn er mich von diesen Schmerzen befreien würde.
»Severn! Severn!«
Für einen Moment denke ich, dass ich derjenige bin, der ruft, wie schon einmal in diesen Gemächern, als ich Joseph Severn in der Nacht rief, weil Schmerzen und Fieber so sehr wüteten, dass ich sie nicht mehr im Zaum halten konnte. Und er war stets zur Stelle: Severn mit seiner bärenhaften, wohlmeinenden Trägheit und dem sanften Lächeln, das ich ihm des Öfteren mit einer kleinen Gemeinheit oder Bemerkung vom Gesicht wischen wollte. Es fällt so schwer, gutmütig zu sein, wenn man im Sterben liegt; ich hatte ein Leben der Großzügigkeit geführt – warum war es dann mein Schicksal, diese Rolle weiterzuspielen, wenn ich leiden musste, wenn ich derjenige war, der die zerfetzten Überreste seiner Lunge in fleckige Taschentücher spie?
»Severn!«
Es ist nicht meine Stimme. Hunt schüttelt mich an den Schultern und ruft Severns Namen. Mir wird klar, er denkt, dass er meinen Namen ruft. Ich stoße seine Hände weg und sinke auf das Kissen zurück. »Was ist? Was ist los?«
»Sie haben gestöhnt«, sagt Gladstones Attaché. »Geschrien.«
»Ein Alptraum. Nichts weiter.«
»Ihre Träume sind normalerweise mehr als Träume«, sagt Hunt. Er sieht sich in dem kleinen Zimmer um, das jetzt von der einzigen Lampe erhellt wird, die er mitgebracht hat. »Was für ein schrecklicher Ort, Severn.«
Ich versuche zu lächeln. »Hat mich achtundzwanzig Schillinge im Monat gekostet. Sieben Scudi. Raub.«
Hunt sieht mich stirnrunzelnd an. Im unvorteilhaften Licht wirken seine Falten tiefer als sonst. »Hören Sie, Severn, ich weiß, dass Sie ein Cybrid sind. Gladstone hat mir gesagt,
Sie sind die Persönlichkeitsrekonstruktion eines Dichters namens Keats. Eindeutig hat dies –« – er deutet hilflos ins Zimmer, die Schatten, die hohen Rechtecke der Fenster, das hohe Bett – »alles etwas damit zu tun. Aber inwiefern? Was für ein Spiel spielt der Core hier?«
»Ich bin nicht sicher«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Aber Sie kennen diesen Ort?«
»O ja«, sage ich nachdrücklich.
»Erzählen Sie es mir«, fleht Hunt, und seine Zurückhaltung bis zu diesem Punkt, nicht zu fragen, ebenso wie die Verzweiflung dieser Bitte veranlassen mich, es ihm wirklich zu erzählen.
Ich erzähle ihm von dem Dichter John Keats, seiner Geburt im Jahre 1795, seinem kurzen und meist unglücklichen Leben und seinem Tod durch »Schwindsucht« 1821 in Rom, fern von seinen Freunden und seiner einzigen Liebe. Ich erzähle ihm von meiner inszenierten »Genesung« in ebendiesem Zimmer, von meiner Entscheidung, den Namen Joseph Severn anzunehmen – des befreundeten Künstlers, der bis zu seinem Tod bei Keats geblieben ist –, und schließlich erzähle ich ihm von meinem kurzen Aufenthalt im Netz, wo ich zuhörte, beobachtete und dazu verdammt war, das Leben der Pilger zum Shrike auf Hyperion und von anderen zu träumen.
»Träume?«, sagt Hunt. »Sie meinen, Sie träumen sogar jetzt, was im Netz geschieht?«
»Ja.« Ich erzähle ihm von den Träumen von Gladstone, der Zerstörung von Heaven’s Gate und God’s Grove und den wirren Bildern von Hyperion.
Hunt geht in dem engen Zimmer auf und ab, sein Schatten wird hoch an die rauhen Wände geworfen. »Können Sie mit ihnen in Verbindung treten?«
»Mit denen, von denen ich träume?« Ich denke einen Moment lang darüber nach. »Nein.«
»Sind Sie sicher?«
Ich versuche es zu erklären. »Ich komme nicht einmal in diesen Träumen vor, Hunt. Ich habe keine … keine Stimme, keine Präsenz … Ich kann unmöglich mit denen in Verbindung treten, von denen ich träume.«
»Aber manchmal träumen Sie, was sie denken?«
Ich sehe
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