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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wartete das Shrike. Der normalerweise glänzende Panzer wirkte jetzt schwarz und hob sich als Silhouette vor dem Licht und Funkeln des Marmors ringsum ab.
    Brawne spürte den Adrenalinstoß in sich, verspürte den Impuls wegzulaufen und trat ein.
    Der Eingang verschwand fast hinter ihr und blieb lediglich als schwaches Flimmern im einförmigen Leuchten sichtbar,
das von den Wänden ausging. Das Shrike bewegte sich nicht. Seine roten Augen glühten im Schatten des Schädels.
    Als Brawne weiterging, erzeugten die Stiefel keinen Laut auf dem Steinboden. Das Shrike war zehn Meter rechts von ihr, wo die Stufenreihen anfingen, die sich wie obszöne Schaukästen zu einer Decke hoch erstreckten, die sich im Leuchten verlor. Sie gab sich nicht der Täuschung hin, sie könnte es zur Tür zurück schaffen, wenn die Kreatur sie angreifen sollte.
    Doch die regte sich nicht. Die Luft roch nach Ozon und etwas ekelhaft Süßem. Brawne ging mit dem Rücken zur Wand weiter und suchte die Reihen der Menschen nach einem bekannten schlafenden Gesicht ab. Mit jedem Schritt nach links entfernte sie sich weiter vom Eingang und machte es dem Shrike leichter, ihr den Weg abzuschneiden. Das Wesen stand da wie eine schwarze Skulptur in einem Meer aus Licht.
    Die Reihen erstreckten sich kilometerweit. Steinstufen, jede fast einen Meter hoch, unterbrachen die horizontalen Linien dunkler Leiber. Nachdem sie sich mehrere Minuten vom Eingang entfernt hatte, erklomm Brawne das untere Drittel einer dieser Treppen, berührte den ersten Körper auf dem zweiten Steinsims und stellte erleichtert fest, dass die Haut warm war und die Brust des Mannes sich hob und senkte. Es war nicht Martin Silenus.
    Brawne ging weiter und rechnete halb damit, dass sie Paul Duré oder Sol Weintraub oder gar sich selbst zwischen den lebenden Toten liegen sehen würde. Stattdessen fand sie ein Gesicht, das sie zuletzt in einen Berghang gemeißelt gesehen hatte. Der Traurige König Billy lag reglos auf weißem Stein, fünf Stufen weiter oben, und sein königliches Gewand war verbrannt und fleckig. Das traurige Gesicht war – wie alle anderen  – vor inneren Schmerzen verzerrt. Martin Silenus lag drei Schritte weiter auf einer tieferliegenden Stufe.

    Brawne kauerte sich neben dem Dichter nieder und betrachtete über die Schulter den schwarzen Fleck des Shrike, das immer noch reglos am Ende der Reihen von Opfern stand. Silenus schien zu leben wie alle anderen, aber stumme Qualen zu leiden; er war mittels Kortikalstecker an eine pulsierende Nabelschnur angeschlossen, die ihrerseits in die weiße Wand hinter dem Sims verlief, als wäre sie eins mit dem Stein geworden.
    Brawne atmete schwer vor Angst, während sie dem Dichter mit der Hand über den Schädel strich, die Nahtstelle von Plastik und Knochen spürte und dann an der Nabelschnur selbst entlangtastete, ohne bis zu dem Punkt, wo sie mit dem Stein verschmolz, ein Gelenk oder eine Öffnung zu finden. Flüssigkeit pulsierte unter ihren Fingern.
    »Scheiße«, flüsterte Brawne und sah in einem plötzlichen Anflug von Panik hinter sich, weil sie sicher war, dass das Shrike die Entfernung schleichend überbrückt hatte. Aber die dunkle Gestalt stand immer noch am Ende des langen Raums.
    Ihre Taschen waren leer. Sie hatte weder Waffen noch Werkzeug bei sich. Ihr wurde klar, sie musste zur Sphinx zurückkehren, die Rucksäcke suchen, ein Schneidwerkzeug finden, hierher zurückkehren und genügend Mut aufbringen, wieder hier einzutreten.
    Brawne wusste, sie würde nicht noch einmal durch diese Tür gehen können.
    Sie kniete sich nieder, holte tief Luft, hob Hand und Arm hoch und ließ sie niedersausen. Ihre Handkante traf auf das Material, das wie durchsichtiges Plastik aussah, sich aber hart wie Stahl anfühlte. Ihr Arm schmerzte vom Handgelenk bis zur Schulter von dem einzigen Hieb.
    Brawne Lamia sah nach rechts. Das Shrike kam auf sie zu; es schritt gemächlich dahin wie ein alter Mann, der einen Spaziergang macht.

    Brawne schrie, kniete und schlug noch einmal zu, Handkante starr, Daumen im rechten Winkel abgespreizt. Der Aufschlag hallte durch den langen Raum.
    Brawne Lamia war auf Lusus mit einer Standardschwerkraft von 1,3 ge aufgewachsen und selbst für Lusier athletisch. Seit sie neun Jahre alt war, hatte sie davon geträumt und darauf hingearbeitet, Detektivin zu werden, und ein Teil dieser zugegebenermaßen zwanghaften und vollkommen unlogischen Vorbereitungen war gewesen, dass sie sich in Kampfsportarten

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