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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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durch mich selbst entkommen muss.« Er machte die Augen zu, sein Atem wurde noch keuchender.
    »Ich verstehe nicht«, sagte Leigh Hunt, der die Hand des jungen Mannes ergriff. Er ging davon aus, dass es neuerliche Fieberfantastereien waren, aber da es einer der wenigen Augenblicke in den vergangenen Tagen zu sein schien, da Keats bei
vollem Bewusstsein war, dachte sich Hunt, dass es sich lohnen könnte, mit ihm zu sprechen. »Was meinen Sie damit, sich selbst durch sich selbst entkommen?«
    Keats schlug die zitternden Lider auf. Seine Augen waren haselnussbraun und viel zu glänzend. »Ummon und die anderen versuchen mich dazu zu bringen, dass ich mir selbst entkomme, indem ich das Gottsein akzeptiere, Hunt. Köder, um den weißen Wal zu fangen, Honig, um die letzte Fliege zu fangen. Die fliehende Empfindung soll ihre Heimstatt in mir finden … in mir, Mr. John Keats, eins fünfundsiebzig groß … und dann fängt die Aussöhnung an, richtig?«
    »Welche Aussöhnung?« Hunt beugte sich näher hin, bemühte sich aber, ihn nicht mit seinem Atem zu berühren. Keats schien in seinem Nachtgewand und dem Wirrwarr der Laken geschrumpft zu sein, aber die Hitze, die er ausströmte, erfüllte das ganze Zimmer. Sein Gesicht war ein blasses Oval im erlöschenden Licht. Hunt merkte nur am Rande, wie ein goldener Streifen reflektierten Sonnenlichts dicht unterhalb der Decke über die Wand wanderte, aber Keats ließ keinen Blick von diesem letzten Streifen des Tages.
    »Die Aussöhnung von Mensch und Maschine, Schöpfer und Geschöpf«, sagte Keats und fing an zu husten; er hörte erst auf, als er roten Schleim in das Becken gesabbert hatte, das Hunt für ihn hielt. Er lehnte sich zurück, stöhnte einen Moment lang und fügte hinzu: »Aussöhnung der Menschheit mit den Spezies, die sie auszurotten versucht hat, des Core mit der Menschheit, die er vernichten wollte, des unter Schmerzen entstandenen Gottes der Bindenden Leere mit seinen Vorfahren, die versucht haben, ihn zu zerstören.«
    Hunt schüttelte den Kopf und hörte auf zu schreiben. »Das verstehe ich nicht. Sie können dieser Messias … werden, indem Sie vom Totenbett aufstehen?«
    Das blasse Oval von Keats’ Gesicht bewegte sich auf dem
Kissen hin und her, eine Gebärde, die als Ersatz für Gelächter gelten konnte. »Wir alle könnten es, Hunt. Der Menschheit Narretei und größter Stolz. Wir akzeptieren unsere Schmerzen. Wir machen Platz für unsere Kinder. Damit haben wir uns das Recht verdient, zu dem Gott zu werden, von dem wir geträumt haben.«
    Hunt sah nach unten und stellte fest, dass er vor hilfloser Frustration die Fäuste geballt hatte. »Wenn Sie das können – zu dieser Macht werden können –, dann machen Sie es! Bringen Sie uns von hier fort!«
    Keats schloss die Augen. »Kann nicht. Ich bin nicht Der Kommende, sondern Der Zuvor Kommende. Nicht der Getaufte, sondern der Täufer. Merde, Hunt, ich bin Atheist! Nicht einmal Severn konnte mich überzeugen, als ich im Tod ertrank!« Keats packte Hunts Hemd mit einer Heftigkeit, die dem älteren Mann Angst machte. »Schreiben Sie!«
    Und Hunt sputete sich, den uralten Federhalter und das rauhe Papier zu finden, und kritzelte hektisch, damit er die Worte niederschreiben konnte, die Keats ihm zuflüsterte:
    Doch wunderbare Lehre
Les ich in deinem Antlitz, welches schweigt.
Unendlich Wissen macht mich heut zum Gott.
Und Namen, Taten, graue Sagen, böse
Begebenheiten, hehrste Stimmen, Marter,
Erschaffung und Vernichtung allesamt
Strömt in die weiten Höhlen meines Hirns,
Und das vergöttlicht mich, als hätt ich Glutwein
Oder ein sonder Elixier getrunken
Und ward davon unsterblich.
    Keats lebte noch drei schmerzhafte Stunden, ein Schwimmer, der gelegentlich aus seinem Meer der Schmerzen auftauchte,
um zu atmen oder einen drängenden Unsinn zu flüstern. Einmal, lange nach Einbruch der Dunkelheit, zupfte er Hunt am Ärmel und flüsterte hinreichend verständlich: »Wenn ich tot bin, wird Ihnen das Shrike nichts tun. Es wartet auf mich. Es gibt vielleicht keinen Weg nach Hause, aber es wird Ihnen nichts tun, wenn Sie danach suchen.« Dann fing Keats wieder an zu reden, als Hunt sich gerade über ihn gebeugt hatte, um festzustellen, ob noch Atem in der Lunge des Dichters blubberte, und sprach unter Hustenanfällen weiter, bis er Hunt genaue Anweisungen gegeben hatte, wie er auf dem protestantischen Friedhof von Rom in der Nähe der Pyramide von Gaius Cestius begraben werden wollte.
    »Unsinn,

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