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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Unsinn«, murmelte Hunt immer wieder wie ein Mantra und drückte die heiße Hand des jungen Mannes.
    »Blumen«, flüsterte Keats ein wenig später, als Hunt gerade die Lampe auf der Kommode angezündet hatte. Der Dichter sah mit großen Augen und einem Ausdruck unverwässerten, kindlichen Staunens zur Decke. Hunt blickte hinauf und sah verblasste gelbe Rosen, die auf die blauen Quadrate der Decke gemalt worden waren. »Blumen … über mir«, flüsterte Keats zwischen gequälten Atemzügen.
    Hunt stand am Fenster und starrte in die Schatten jenseits der Spanischen Treppe, als die schmerzhaften Atemgeräusche hinter ihm schwächer wurden und aufhörten und Keats keuchte: »Severn … heben Sie mich hoch! Ich sterbe.«
    Hunt setzte sich auf das Bett und hielt ihn fest. Hitze wurde von dem kleinen Körper abgestrahlt, der nichts zu wiegen schien, als wäre seine Grundsubstanz im Feuer des Fiebers verbrannt. »Keine Angst. Seien Sie stark. Und danken Sie Gott, dass es gekommen ist!«, keuchte Keats, dann hörte das schreckliche Krächzen auf. Hunt half Keats, sich wieder hinzulegen, während die Atmung wieder einen normalen Rhythmus annahm.

    Hunt wechselte das Wasser im Becken, befeuchtete ein frisches Tuch, kam zurück – und stellte fest, dass Keats tot war.
    Später, als die Sonne gerade aufging, hob Hunt den kleinen Leichnam hoch – den er in frische Leintücher von seinem eigenen Bett gewickelt hatte – und ging hinaus in die Stadt.
     
    Als Brawne Lamia das Ende des Tals erreicht hatte, hatte der Sturm nachgelassen. Als sie am Höhlengrab vorbeikam, sah sie dasselbe unheimliche Leuchten, das von den anderen Gräbern ausging, aber sie hörte auch einen fürchterlichen Lärm – als würden Tausende Seelen aufschreien –, der hallend und stöhnend aus der Erde drang. Brawne eilte weiter.
    Als sie vor dem Palast des Shrike stand, war der Himmel klar. Das Gebilde trug seinen Namen zurecht: Die Halbkugel krümmte sich hoch und nach außen wie der Panzer der Kreatur, Stützträger erstreckten sich nach unten wie Klingen, die den Talboden durchbohrten, andere Zinnen ragten hoch in die Luft wie Dornen des Shrike. Wände waren durch Zunahme des inneren Leuchtens transparent geworden, jetzt strahlte das ganze Gebilde wie ein papierdünn geschnitzter Laternenkürbis; die oberen Regionen glühten rot wie der Blick des Shrike.
    Brawne holte tief Luft und berührte ihren Unterleib. Sie war schwanger – sie hatte es schon gewusst, bevor sie Lusus verlassen hatte – und war sie ihrer ungeborenen Tochter jetzt nicht mehr schuldig als dem obszönen alten Dichter am Baum des Shrike? Brawne wusste, die Antwort lautete ja, und das spielte nicht die geringste Rolle. Sie atmete aus und näherte sich dem Palast des Shrike.
    Von außen war der Palast nicht mehr als zwanzig Meter breit. Als sie früher eingetreten waren, hatten Brawne und die anderen Pilger das Innere stets als einzigen offenen Raum gesehen, der leer war, abgesehen von klingenartigen Stützstreben,
die den Raum unter der leuchtenden Kuppel kreuz und quer durchzogen. Als Brawne jetzt am Eingang stand, präsentierte sich das Innere als ein Raum, der länger als das ganze Tal selbst war. Ein Dutzend Reihen weißer Steinstufen ragten Stück für Stück auf und erstreckten sich bis in die dunstige Ferne. Auf jeder dieser Steinstufen lagen menschliche Gestalten, jede verschieden gekleidet, jede mit demselben halb organischen, halb parasitären Neuralstecker und Kabel befestigt, wie sie selbst sie nach Aussage ihrer Freunde auch getragen hatte. Nur pulsierten diese metallischen, aber durchsichtigen Nabelschnüre rot und dehnten und zogen sich regelmäßig zusammen, als würde das Blut durch die Schädel der schlafenden Gestalten wiederaufbereitet werden.
    Brawne taumelte zurück, was ebenso auf den Sog der Anti-Entropiefelder wie auf den Anblick zurückzuführen war, aber als sie zehn Meter vom Palast entfernt stand, war das Äußere nicht größer als sonst. Sie versuchte gar nicht erst zu verstehen, wie das kilometerlange Innere in diese kleine Hülle passen konnte. Die Zeitgräber taten sich auf. Soweit sie wusste, konnte dieses hier in verschiedenen Zeiten koexistieren. Sie verstand nur eins: Als sie aus ihrem Trip mit dem Neuralstecker aufgewacht war, hatte sie den Dornenbaum des Shrike gesehen, der mit Röhren und für das Auge unsichtbaren Energieranken ganz offensichtlich hier mit dem Palast des Shrike verbunden war.
    Sie ging wieder zum Eingang.
    Drinnen

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