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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Aber Sol hatte sich an den Steinstufen der Sphinx festgeklammert und während alledem gewartet. Er wartete immer noch.
    Obwohl nur halb bei Bewusstsein und bedrängt von Müdigkeit und der Sorge um seine Tochter, musste Sol feststellen, dass sein Gelehrtenverstand auf Hochtouren arbeitete.
    Fast sein ganzes Leben lang und seine gesamte berufliche Laufbahn über hatte sich Sol Weintraub, der Historiker-Klassizist-Philosoph, mit der Ethik menschlichen religiösen Verhaltens beschäftigt. Religion und Ethik waren nicht immer – nicht einmal häufig – wechselseitig austauschbar. Die Forderungen von religiösem Absolutismus oder Fundamentalismus oder grassierendem Relativismus spiegelten häufig die negativsten Aspekte zeitgenössischer Kultur oder Vorurteile wider statt ein System, in dem Mensch und Gott gleichermaßen mit einem Gefühl wahrhaftiger Gerechtigkeit leben konnten. Sols berühmtestes Buch, das den Titel Das Abraham-Dilemma erhielt, als es im Taschenbuch mit Auflagen erschien, von denen er sich nie hätte träumen lassen, als er noch Bücher für akademische Verlage verfasste, war geschrieben worden, als Rachel an Merlins Krankheit litt und befasste sich ganz eindeutig mit Abrahams schwerer Entscheidung, Gottes Befehl, seinen Sohn zu opfern, zu befolgen oder nicht zu befolgen.
    Sol hatte geschrieben, dass primitive Zeiten primitiven Gehorsam erforderlich machten, dass sich spätere Generationen zu einem Punkt entwickelten, an dem sich die Eltern selbst als Opfer anboten – wie in den dunklen Nächten der Brennöfen,
die sich wie Pockennarben durch die Geschichte der Erde zogen  –, und dass derzeitige Generationen jeden Befehl für ein Opfer zu missachten hätten. Sol hatte geschrieben, welche Form Gott auch jetzt im menschlichen Denken einnahm – sei es als bloße Manifestation des Unterbewusstseins in all seinen revanchistischen Bedürfnissen oder als bewussterer Versuch einer philosophischen und ethischen Evolution –, die Menschheit durfte nicht einfach mehr einwilligen, Opfer im Namen Gottes darzubringen. Opfer – und die Bereitwilligkeit zu opfern  – hatten die Menschheitsgeschichte mit Blut geschrieben.
    Und doch hatte Sol Weintraub vor Stunden, vor Ewigkeiten, sein einziges Kind einer Kreatur des Todes übergeben.
    Jahrelang hatte die Stimme in seinen Träumen ihm befohlen, genau das zu tun. Jahrelang hatte sich Sol geweigert. Er hatte sich letztendlich darauf eingelassen, aber erst, als die Zeit dahin war, als jede Hoffnung dahin war, erst als ihm klar geworden war, die Stimme in seinen und Sarais Träumen war all die Jahre über nicht die Stimme Gottes gewesen und auch nicht die einer dunklen Macht, die mit dem Shrike im Bunde stand.
    Es war die Stimme ihrer Tochter gewesen.
    Mit plötzlicher Klarheit, die über seine unmittelbaren Schmerzen und die Trauer hinausging, begriff Sol Weintraub auf einmal, warum Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern, als der Herr es ihm befohlen hatte.
    Es war kein Gehorsam.
    Es war nicht einmal so, dass er die Liebe zu Gott höher bewertete als die Liebe zu seinem Sohn.
    Abraham stellte Gott auf die Probe.
    Indem er das Opfer im letzten Augenblick ablehnte, indem er dem Messer Einhalt gebot, hatte sich Gott – in Abrahams Augen und im Herzen seines Sprösslings – das Recht erworben, der Gott Abrahams zu werden.

    Sol erschauerte, als er darüber nachdachte, dass kein Posieren von Seiten Abrahams, kein Vorschützen seiner Bereitschaft, den Jungen zu opfern, dazu hätte dienen können, dieses Band zwischen höherer Macht und Menschheit zu schmieden. Abraham hatte im Innersten seines Herzens wissen müssen, dass er den Jungen töten würde. Die Gottheit, welche Form sie auch damals angenommen haben mochte, musste überzeugt von Abrahams Entschlossenheit sein, musste die Traurigkeit und Entschlossenheit, zu vernichten, was Abraham das Teuerste im Universum war, spüren.
    Abraham musste kein Opfer bringen, erfuhr aber ein für allemal, dass sein Gott ein Gott war, dem man vertrauen und gehorchen konnte. Kein anderer Test hätte dazu ausgereicht.
    Aber warum, fragte sich Sol, als er sich an die Steinstufen der Sphinx klammerte, die sich auf dem stürmischen Meer der Zeit zu heben und senken schien, warum wurde dieser Test wiederholt? Welche schrecklichen neuen Offenbarungen warteten auf die Menschheit?
    Da begriff Sol – aufgrund des wenigen, was Brawne ihm erzählt hatte, aufgrund der während der Pilgerfahrt erzählten Geschichten,

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