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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Schwerkraft und Materie-Antimaterie. Der Platz für eine Art Gott befand
sich nicht im Netz zwischen den Mauern, noch in den Singularitätsritzen im Pflaster, noch irgendwo vor und jenseits der Sphäre aller Dinge – sondern in jedem Grundbaustein aller Dinge. Dass sich das Universum so entwickelte, wie es sich entwickelte. Dass gelernt wurde, wie die lernfähigen Komponenten des Universums lernten. Dass geliebt wurde, wie die Menschheit liebte.
     
    Sol richtete sich auf die Knie auf, dann auf die Füße. Der Sturm der Zeitgezeiten schien ein wenig nachgelassen zu haben, und Sol überlegte sich, er könnte zum hundertsten Mal versuchen, Zugang zu dem Grab zu erlangen.
    Immer noch strömte grelles Licht dort aus, wo das Shrike erschienen war, Sols Tochter genommen hatte und wieder verschwunden war. Aber jetzt verblassten die Sterne, und der Himmel wurde von der Dämmerung erhellt.
    Sol ging die Treppe hinauf.
    Er erinnerte sich an die Zeit daheim auf Barnards Welt, als Rachel – sie war zehn – versucht hatte, auf die höchste Ulme der Stadt zu klettern und fünf Meter von der Spitze entfernt abgestürzt war. Sol war ins Med-Zentrum geeilt und hatte sein Kind mit einem Lungenriss, einem gebrochenen Bein, gebrochenen Rippen, einer Kieferfraktur und zahllosen Schnitt- und Schürfwunden in einem Tank voll Nährlösung gefunden. Sie hatte ihm zugelächelt, einen Daumen gehoben und durch den drahtgeschienten Kiefer gesagt: »Nächstesmal schaffe ich es!«
    In jener Nacht hatten Sol und Sarai im Med-Zentrum gesessen, während Rachel geschlafen hatte. Sie hatten auf den Morgen gewartet. Sol hatte ihr die ganze Nacht die Hand gehalten.
    Jetzt wartete er wieder.
    Zeitgezeiten vom offenen Eingang der Sphinx hielten Sol
immer noch fern wie beharrliche Winde, aber er stemmte sich dagegen wie ein unverrückbarer Fels, stand fünf Meter entfernt wartend da und blinzelte in die Helligkeit.
    Er blickte auf, wich aber nicht zurück, als er den Fusionsschweif eines landenden Raumschiffs erblickte, das den Himmel vor der Dämmerung durchschnitt. Er drehte sich um und sah hin, wich aber nicht zurück, als er das Raumschiff landen und drei Gestalten herauskommen sah. Er sah sich um, wich aber nicht zurück, als er andere Geräusche hörte, Rufe weiter drinnen im Tal, und eine vertraute Gestalt erkannte, die eine zweite im Tragegriff hielt und von jenseits des Jadegrabs auf ihn zukam.
    Das alles hatte nichts mit seinem Kind zu tun. Er wartete auf Rachel.
     
    Auch ohne Datensphäre ist es meiner Persönlichkeit durchaus möglich, durch die dicke Suppe der Bindenden Leere zu reisen, die Hyperion jetzt umgibt. Meine erste Reaktion ist, dass ich den Kommenden besuchen will, aber obzwar dessen Glanz die Metasphäre beherrscht, bin ich dafür noch nicht bereit. Schließlich bin ich der kleine John Keats, nicht Johannes der Täufer.
    Die Sphinx – ein Grab, das nach einer wahrhaftigen Kreatur gestaltet ist, die Genetiker erst in Jahrhunderten entwerfen werden – ist ein Mahlstrom temporaler Energien. Für meine gesteigerte Sehfähigkeit sind tatsächlich mehrere Sphinxe sichtbar: das anti-entropische Grab, das seine Fracht, das Shrike, in der Zeit rückwärtstransportiert wie ein versiegelter Behälter tödliche Bazillen, die aktive, instabile Sphinx, die Rachel Weintraub bei ihren ersten Bemühungen kontaminierte, ein Portal durch die Zeit aufzutun, und die Sphinx, die sich geöffnet hat und sich wieder vorwärts durch die Zeit bewegt. Diese letzte Sphinx ist das grelle Portal des
Lichts, das nur vom Kommenden übertroffen Hyperion mit seinem Freudenfeuer in der Metasphäre erhellt.
    Ich komme gerade rechtzeitig zu diesem grellen Ort, dass ich sehen kann, wie Sol Weintraub dem Shrike seine Tochter gibt.
    Selbst wenn ich früher eingetroffen wäre, hätte ich nicht in dieses Ereignis eingreifen können. Selbst wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es nicht getan. Welten jenseits aller Vorstellung hängen von dieser Tat ab.
    Aber ich warte in der Sphinx, bis das Shrike, das seine empfindliche Last trägt, vorbeikommt. Jetzt kann ich das Kind sehen. Rachel ist Sekunden alt, fleckig, feucht und runzlig. Sie schreit sich die neugeborene Lunge aus dem Hals. Wegen meiner alten Junggesellengewohnheiten und dem kontemplativen Standpunkt des Dichters fällt es mir schwer, die Faszination zu verstehen, die dieses plärrende, unansehnliche Kind auf seinen Vater und den Kosmos ausübt.
    Und doch rührt der Anblick der Babyhaut – so unattraktiv

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