Die Hyperion-Gesänge
Denieve im Innenhof der Großen Moschee von Mashhad. Er und vierunddreißig weitere Soldaten von FORCE sahen zu, wie der Mob auf dreihunderttausend Militante anschwoll, die lediglich von den Sperrfeldern des Schiffes und der Tatsache abgehalten wurden, dass der Neue Prophet noch keinen Befehl zum Angriff gegeben hatte. Der Neue Prophet befand sich nicht mehr in der Großen Moschee; er war zur Nordhalbkugel von Riyadh geflogen, um dort an den Siegesfeiern teilzunehmen.
Zwei Stunden nach der Landung verließ Kapitän Kassad das Schiff und sendete eine kurze Bekanntgabe. Er sagte, er wäre als Moslem großgezogen worden. Er sagte auch, Interpretationen des Koran seit den Tagen der schiitischen Saatschiffe hätten unmissverständlich gezeigt, dass der Gott des Islam das Abschlachten von Unschuldigen weder gutheißen noch zulassen würde, egal wie viele Heilige Kriege von hitzköpfigen Häretikern wie dem Neuen Propheten auch verkündet würden. Kapitän Kassad gab den Anführern der dreißig Millionen Glaubenseiferer drei Stunden Zeit, die Geiseln freizulassen
und in ihre Heimat auf dem Wüstenkontinent Qom zurückzukehren.
In den ersten drei Tagen der Revolution hatten die Armeen des Neuen Propheten fast sämtliche Städte auf zwei Kontinenten besetzt und mehr als siebenundzwanzigtausend Geiseln aus der Hegemonie genommen. Erschießungskommandos waren Tag und Nacht damit beschäftigt, uralte religiöse Dispute beizulegen; man schätzte, dass mindestens eine Viertelmillion Sunniten allein in den ersten beiden Tagen der Regentschaft des Neuen Propheten niedergemetzelt worden waren. Als Antwort auf Kassads Ultimatum ließ der Neue Prophet verkünden, dass sämtliche Ungläubige nach seiner Live-Fernsehübertragung am Abend hingerichtet werden sollten. Außerdem befahl er den Sturm auf Kassads Angriffsboot.
Die Revolutionsgarde verzichtete wegen der Großen Moschee auf Explosivstoffe und benützte stattdessen automatische Waffen, altmodische Energiekanonen, Plasmaladungen und den direkten Ansturm der Menschenmassen. Das Sperrfeld hielt.
Die Fernsehansprache des Neuen Propheten begann fünfzehn Minuten, bevor Kassads Ultimatum auslief. Der Neue Prophet stimmte Kassad zu, dass Allah Häretiker schrecklich bestrafen würde, betonte aber, es würden die Ungläubigen der Hegemonie sein, die bestraft werden würden. Es war das einzige Mal, dass man den Neuen Propheten vor der Kamera die Beherrschung verlieren sah. Schreiend und geifernd befahl er, den Sturm auf das gelandete Angriffsboot fortzusetzen. Und verkündete, dass momentan ein Dutzend Fusionsbomben im besetzten »Macht-des-Friedens«-Reaktor in Ali zusammengebaut würden. Damit würden die Kräfte Allahs ins All selbst vorstoßen. Die erste Fusionsbombe, sagte er, würde noch an diesem Nachmittag gegen das satanische Landungsboot des Ungläubigen Kassad eingesetzt werden. Danach begann der
Neue Prophet im Einzelnen zu erklären, wie die Geiseln aus der Hegemonie hingerichtet werden sollten – aber in diesem Augenblick lief Kassads Ultimatum ab.
Qom-Riyadh war aus freien Stücken und aufgrund der abgelegenen Lage eine technisch primitive Welt. Doch die Bewohner waren nicht so primitiv, dass sie nicht eine aktive Datensphäre besessen hätten. Und die revolutionären Mullahs, die die Invasion angeführt hatten, standen dem »Großen Satan Hegemoniewissenschaft« wiederum auch nicht so ablehnend gegenüber, dass sie sich geweigert hätten, sich mit ihren persönlichen Komlogs ins globale Datennetz einzuklinken.
Die HS Denieve hatte inzwischen so viele Spionagesatelliten ausgesetzt, dass um 17:29 Uhr Mittel-Qom-Riyadhscher Zeit die Datensphäre soweit angezapft war, dass das Hegemonieschiff sechzehntausendachthundertunddreißig revolutionäre Mullahs anhand ihrer Access-Codes identifiziert hatte. Um 17:29:30 Uhr begannen die Spionagesatelliten damit, die Echtzeit-Zieldaten an die einundzwanzig Grenzverteidigungssats durchzugeben, die Kassads Angriffsboot in einem tiefen Orbit postiert hatte. Diese orbitalen Verteidigungswaffen waren so alt, dass es Aufgabe der Denieve gewesen war, sie zur sicheren Vernichtung ins Netz zurückzubringen. Kassad hatte eine andere Verwendung vorgeschlagen.
Um präzise 17:30 Uhr brachten neunzehn der kleinen Satelliten ihre Fusionskerne zur Explosion. In den Nanosekunden vor ihrer Selbstzerstörung wurden die entstandenen Gammastrahlen gebündelt, gezielt und als sechzehntausend unsichtbare, aber kohärente Strahlen losgeschickt. Die
Weitere Kostenlose Bücher